Mittwoch 6. Juni 2012, 14:49
Hi,
hab eben auf meinem PC zufällig (wußte nicht, das ich es habe) ein wirklich denkwürdiges, aber auch älteres Interview gefunden:
Frage:
Mit Camus’ Antihelden Sisyphos gedacht: Der Alkoholiker kennt das ganze Ausmaß seiner unseligen Lage. Er weiß womöglich, dass es kein Schicksal gibt, das nicht überwunden werden kann – aber ihm fehlt das Handwerkszeug. Professor Ameisen, Sie machten unzählige Therapien "großartig", aber Sie selbst fühlten sich dabei stets "schrecklich", als eine Null, für die das Leben gelaufen war. Ohne jeden Voyeurismus: Lassen sich ein, zwei der zermürbendsten Episoden schildern, um die Dramatik Ihrer Alkoholkrankheit überhaupt verstehen zu können?
Prof. Dr. Ameisen:
Direkt in medias res: Ich wurde im August 1997 in mein "eigenes" Krankenhaus eingeliefert, welches als eine der besten Entziehungskliniken für Alkoholkranke in den USA gilt. Wäre ich nicht von einem Team aus erstklassigen Neurologen, Nierenspezialisten und anderen Ärzten behandelt worden, wäre ich gestorben. Mit Delirium tremens, Status epilepticus und Rhabdomyolyse landete ich auf der Intensivstation. Meine Kollegen haben mir das Leben gerettet, meine Nieren blieben intakt. Nach zwölf Tagen wurde ich entlassen. Da mir bewusst war, dass mein Überleben nahezu ein Wunder war und der nächste Drink durchaus mein letzter sein könnte, war ich entschlossen, niemals wieder zu trinken.
Ich fragte meine behandelnden Kollegen nach Ratschlägen, wie ich mit dem Trinken aufhören könnte. Die Suchtärzte rieten mir, zu den Anonymen Alkoholikern (AA) zu gehen. Ich informierte mich über die Ergebnisse der Anonymen Alkoholiker sowie die Statistiken ihrer Erfolgsraten. Dies sind Standardfragen, die von Patienten gestellt werden und wir, als Ärzte, beantworten sie so gut wir können. Zu meiner Bestürzung begegneten mir als Antwort nur freundliche Gesichter. Mir wurde gesagt, dass ich hart an meiner Genesung und Einstellung arbeiten müsse, dass ich ein guter Mensch sei und dass ich es verdient hätte, diese furchtbare Krankheit zu überwinden. Die Grundlage der Anonymen Alkoholiker ist, dass man auf keinen Fall seine Willenskraft einsetzen soll. Tut man es doch, gewinnt die Krankheit die Oberhand. Zur gleichen Zeit traf ich jedoch einen Psychologen, ein Spezialist auf dem Gebiet der Kognitiven Verhaltenstherapie. Er wiederum sagte mir, die Anonymen Alkoholiker seien Unsinn. Stattdessen empfahl er mir, mich auf meine Willensstärke zu verlassen, um nicht rückfällig zu werden und am Ende gar zu sterben.
Was tun in dieser Situation: Alles ist Willenskraft oder du stirbst versus Verlässt du dich auf deine Willenskraft, bist Du tot? Es ging um mein Leben. Traf ich die falsche Entscheidung, würde ich sterben. Ich habe mich an Professor John Schaefer gewendet – der Neurologe, der mir im Krankenhaus das Leben gerettet hatte und mit dem ich seit mehr als zehn Jahren kooperierte. John wog die Leben und Tod gegeneinander ab. Er war sehr bewegt. Mit einem Lächeln sagte er zu mir: „Olivier, an Deiner Stelle würde ich mich nicht von meiner inneren Einstellung leiten lassen. Ich selbst tendiere zur Rationalität und würde die Anonymen Alkoholiker ablehnen.“ Als ich ihn fragte, was er an meiner Stelle tun würde, meinte er, er sei sich nicht sicher.
Die derzeitige Behandlung des Alkoholismus spiegelt genau diese Sinnlosigkeit. Die medikamentöse Therapie ist notorisch unzureichend. Daher machen sich die meisten Ärzte nicht einmal mehr die Mühe, sie zu verschreiben. Aber die andere Seite dieses Alptraums besteht darin, dass einem – im Gegensatz zu allen anderen schweren Erkrankungen, für die man Mitgefühl erhält – diese tödliche Krankheit zum Vorwurf gemacht wird. Man sagt dir, die Krankheit sei selbstverschuldet. Man soll einfach aufhören mit dem Trinken. Aber das funktioniert bekanntlich nicht. Genauso wenig, wie man seinen Cholesterinspiegel oder Blutdruck durch Willenskraft senken kann.
Frage:
"Juden sind keine Schickers." Das sagte einmal Ihre Mutter zu Ihnen. "Du bist intolerant. Du bist wie die Nazis." Wie schmerzlich mussten Sie, alkoholisiert, solche Dialoge empfunden haben. Sie merken es, wir wollen zurück zu Kindheit und Jugend, auch zu Ihrer Begabung als Komponist und Virtuose. Sie spielten Rubinstein vor – der begeistert war! – und interpretierten für Aragon in der "Closerie des Lilas" die Mondscheinsonate. Mit Blick auf die Krankheit vor der Sucht (Angst): Welche Rolle spielte Ihre Herkunft, was bewegte Sie zum Medizinstudium?
Prof. Dr. Ameisen:
Meine Eltern waren intelligente, mutige und mitfühlende Menschen. Sie haben uns nach höchsten, vor allem ethischen, Maßstäben erzogen. Eines ihrer wichtigsten Anliegen war die Hilfsbereitschaft. Darin waren sie uns so sehr Vorbild, dass alle ihre drei Kinder Ärzte geworden sind. Ich habe viele Leidenschaften in meinem Leben. Es gab etliche Berufe, die ich in Erwägung gezogen habe. Nichtsdestotrotz würde ich, wenn ich noch einmal wählen dürfte, wieder Medizin studieren. Eigentlich fühle ich mich noch immer wie ein Medizinstudent und habe mich immer so gefühlt. Ich lerne jeden Tag – von Studenten, Fachzeitschriften, aber hauptsächlich von Patienten.
Die Fähigkeit, Empathie für leidende Menschen zu empfinden und mich mit ihnen zu identifizieren, war eine weitere Gabe meiner Eltern. So habe ich während der letzten 15 Jahre Hunderten von Alkoholikern, Sucht- und Bulimiekranken sowie depressiven Menschen zugehört. Mit jedem von ihnen habe ich mich identifiziert, als ich mit ihnen in Rehabilitationszentren lebte, aber auch bei den Treffen der Anonymen Alkoholiker. Lange Zeit habe ich geglaubt, dass Suchtexperten mich und meine Krankheit verstehen. Tatsächlich habe ich jedoch in den sechs Jahren nach meiner Selbstheilung während vieler Gespräche erkennen müssen, wie wenig sie wissen. Ihre Kenntnisse stammen aus Büchern, aus Gesprächen mit Kollegen. Und selbst wenn sie einige Zeit mit den Patienten verbringen – die jedoch meist nicht die Wahrheit erzählen aus Angst, ihren Job und ihre Familien zu verlieren oder nicht ernst genommen zu werden -, gelingt es nur wenigen Ärzten, eine wirkliche Sichtweise und ein tieferes Verständnis für die Krankheit zu entwickeln. Aus diesem Grund ziehen es viele Alkoholiker und Suchtkranke vor, lieber von einem betroffenen Arzt behandelt zu werden als von einem Mediziner, der über das Verlangen nach Alkohol spricht, aber nicht versteht, wie sich die Patienten fühlen.
So gesehen, wenn ich etwas mitbekommen habe, aus meiner Familie, durch meine Herkunft, dann sicherlich die Bestimmung zum Arztberuf. Vielleicht kann ich dazu in praxi, durch die Erfahrungen aus meiner Alkoholerkrankung, einiges beitragen. Mir fällt in diesem Kontext Jerome Posner ein, mit dem ich befreundet bin und der in der Neurologie ja auch in Deutschland bekannt ist, der mir gegenüber einmal geäußert hat: „Suchtexperten schließen sich selbst aus der Behandlung aus.“ Ich stimme darin vollkommen mit ihm überein.
Frage:
Als Kardiologe partizipierten Sie an der EKG-Forschung, von 1985 bis 1991 listet PubMed eine erfolgreiche Laufbahn – danach endet die Publikationstätigkeit bis 2005 abrupt. Phänotypisch, auch für viele Ärzte in Europa, ist, womit Sie in Ihrer kardiologischen Praxis zu kämpfen hatten: mit dem ökonomischen Überleben. Inwiefern assoziieren Sie Ihre Abhängigkeit mit wirtschaftlichen Zwängen und: wie "therapierten" Sie sich selbst, wie kaschierten Sie Ihre Krankheit?
Prof. Dr. Ameisen:
Die Tatsche, dass ich nach 1991 nicht mehr publiziert habe, hat nichts mit meiner Suchterkrankung zu tun. Es hängt vielmehr damit zusammen, dass ich auf eine der höchsten Positionen in meinem Krankenhaus befördert worden bin, die mir keine Zeit für Forschungstätigkeiten gelassen hat. 1994 bin ich erneut aufgestiegen. Wie Sie jedoch richtig andeuten, hatte ich finanzielle Schwierigkeiten, die zu lähmenden Panikattacken geführt haben. Ich habe meine Krankheit jedoch nie verheimlicht. Im Gegenteil: 1996 habe ich entschiedene Maßnahmen ergriffen. Ich habe nie als Arzt praktiziert, wenn ich getrunken habe.
Als mir bewusst wurde, dass mein Trinkverhalten Patienten gefährden könnte, bin ich 1997 zum Präsidenten der medizinischen Abteilung gegangen und habe ihm mitgeteilt, dass ich kündigen möchte. Er antwortete: „Olivier, das ist Unsinn. Du bist krank. Lass Dich einfach behandeln und komm wieder, wenn Du wieder gesund bist.“ Er und die meisten Krankenhausmitarbeiter haben mich für meine Ehrlichkeit und meinen Mut gelobt. Sie sagten mir, meine Moral und mein Verantwortungsbewusstsein seien außergewöhnlich. Der Präsident hat sogar behauptet, er könne mir alle trinkenden Ärzte zeigen, die in unserem Krankenhaus praktizieren.
Frage:
"Show us the way to the next therapy"! Bewusst haben wir den Brecht-Song invertiert, um Ihre Entzugs-Odyssee anzusprechen. Nichts haben Sie ausgelassen: Den Anfang machte das pro Tag 500 Dollar teure Clear Spring Hospital, das Sie auf eine Frage von Leben und Tod nächtens nach Hause schickte. Es folgten Lenox Hill Hospital, Brattelboro Retreat, High Watch, die Keimzelle der "Anonymen Alkoholiker". Dann kam Marworth, wozu Sie "verpflichtet" wurden, um nicht Ihre Zulassung zu verlieren. Zuletzt Paris! Wie waren im Nachhinein Ihre Erfahrungen, konkret?
Prof. Dr. Ameisen:
Nebenbei bemerkt: Eine Entziehungsverweigerung hätte mein Recht, in Frankreich oder der Europäischen Union Medizin zu praktizieren, in keiner Weise beeinträchtigt. Solch absurde Regeln gibt es hier nicht. Aber zurück zur Behandlung: Naiverweise habe ich geglaubt, dass mir die Rehabilitationszentren helfen würden. Der Grund dafür war mein Verlangen nach Hoffnung und die Tatsache, dass diese Zentren in Bezug auf ihre Erfolgsraten nicht ehrlich sind. Mein Fall ist typisch. Die New York Times veröffentlichte im Januar 2009 den Artikel „Drug Rehabilitation and Revolving Door?". Darin wird erklärt, dass diese Zentren ganz bewusst ihre Erfolgsraten verheimlichen. Aus diesem Grund verweigern einige Staaten der USA mittlerweile die Fördermittel, sofern Rehabilitationszentren ihre Statistiken nicht transparent machen – so wie es ja in jedem Krankenhaus üblich ist.
In der Reha befindet man sich in einem künstlichen Kokon, in dem man abstinent ist. Die Bedeutung von Abstinenz besteht während des gesamten Tages aus einem Gedanken: „Trinken, weil man ein unbändiges Verlangen hat.“ Man befindet sich in einem konstanten Zustand der Folter. Man wird als „in Remission“ bezeichnet, weil man nicht mehr trinkt. Aber diese Zuschreibung hat nichts mit dem zu tun, was wir in der Medizin unter „Remission“ verstehen. Denn Alkoholismus bedeutet, dass man mit Lähmungserscheinungen und dem Kampf, nicht zu trinken, zu ringen hat. So kam es, dass mir manchmal schon nach zweieinhalb Monaten in Rehabilitation gesagt wurde: „Sie sind ein Vorzeigepatient. Wir wissen, dass Sie keinen Rückfall erleiden werden.“ Noch am Tag meiner Rückkehr nach New York empfand ich so große Angst und ein überwältigendes Verlangen nach Alkohol, dass ich rückfällig wurde. Dies war eigentlich die Regel.
Was passiert also weiter? Sie erzählen einem, man bräuchte weitere Rehabilitationen. Wie in der New York Times beschrieben, greifen sie nach Deinem Geld, solange man welches hat. Sobald man zahlungsunfähig ist, wird man in Frieden gelassen. Wo ist da der Hippokratische Eid? Wenn ich kein Geld hatte, wurde ich einfach rausgeschmissen. Das System ist eine Farce, eine Verhöhnung. Genau wie die Lungenheilanstalten für Tuberkulosekranke, die 1945 alle verschwanden, als man das wirksame Antibiotikum Streptomycin entdeckte. Wenn Du reich und berühmt bist, dann melken sie Dich bis Du stirbst. Amy Winehouse ist nicht dumm. Sie kannte das ganze System ziemlich gut als sie ihren Hitsong „They tried to make me go to rehab but I said no, no, no“ schrieb. Und bedenken Sie die Molière-Medizin: Während der zweieinhalb Monate in einem Rehabilitationszentrum wurde ich nur zweimal von einem Psychiater begutachtet. In Clearspring waren es ebenfalls nur zwei Untersuchungen von jeweils 15 Minuten. Ich konnte nicht glauben, dass dies ein „medizinisches Umfeld“ sein sollte, aber mir blieb nichts anderes übrig als darauf zu vertrauen.
Vertrauen ist die Grundlage der Medizin. Die anschließenden Rehabilitationen in Paris – auch dies ist in meinem Buch beschrieben – waren ebenfalls eine komplette Farce. Ich war in sieben Pariser Rehabilitationszentren. Dort passierte genau der gleiche Unsinn. Dies ist kein Spaß: Sowohl in den USA als auch in Paris kam es zu Unmenschlichkeiten und Beschimpfungen gegenüber Patienten. Das ist der Grund, weshalb ich diese Einrichtungen verurteile. Es gibt viele Vorfälle von Kränkungen. Menschen werden oft wie Kinder behandelt, ohne den grundlegenden Respekt und die Würde, die ein Arzt seinem Patienten zugestehen muss.
Frage:
Philippe Coumel, Nestor der Arrhythmie-Forschung, der Sie neben Jean Dausset (Nobelpreis 1980) am Tag der Verleihung des Ordens der "Légion d’honneur" mit seiner Anwesenheit unterstützte, er konstatierte zu Ihrer Abhängigkeit: Wie vermag ein so kluger Mann keine Lösung zu finden. Ihre einstige Lebensgefährtin Joan half Ihnen mit einem Artikel aus der New York Times, den sie zufällig in der U-Bahn las und Ihnen nach Paris schickte. Stichwort: Anna Rose Childress’ Kokain-Patient! Was bedeutete dieser für Sie (nach Antabus, Benzos et al.!)?
Prof. Dr. Ameisen:
Coumel war ein wahrer Humanist, aber auch ein großer Anhänger des Kartesianismus. Er hörte mir zu und konnte meine Hypothese nachvollziehen, derzufolge meine Alkoholsucht eine biologische Erkrankung war. Er wusste, dass ich eine Heilung finden würde. Ich war beschämt, dass er mich als außerordentlich intelligent erachtete. Ich habe geglaubt, dass der arme Mann entweder naiv oder ein Narr sein müsste. Ich hatte keinerlei Selbstwertgefühl mehr. Der spätere Nobelpreisgewinner für Medizin Jean Dausset, der verkündet hat: „Ameisen hat eine Heilung für die Abhängigkeit entdeckt“, sagte mir jedoch, dass „die Heilung von einem alkoholkranken Arzt kommen müsste.“ Der Grund dafür ist, dass Experten auf diesem Gebiet lediglich die oberflächlichen Aspekte der Krankheit verstehen. Doch nur jemand, der die Krankheit wirklich kennt, kann sich eine genaue Vorstellung von ihr machen.
Als Joan mir den Zeitungsausschnitt aus der New York Times zeigte, dachte ich, dass Baclofen im Kampf gegen Suchterkrankungen nicht hilfreich sein würde. Professor Anna Rose Childress legte dar, dass Baclofen das "Craving" ihrer Patientin verringert hat. Das war allerdings nichts Neues. Naltrexon, Acamprosat, Topiramat, u.a. haben die gleiche Wirkung, aber sie sind furchtbar nutzlos. Was mich jedoch fesselte war der Fakt, dass Baclofen ein Muskelrelaxans ist. Kein anderes Medikament schaffte es bis dahin, meine vor Angst angespannten Muskeln zu lockern. Erst später, als ich einen Computer bekam, habe ich auf PubMed die seit 1996 gesammelten Ergebnisse von Tierforschern entdeckt. AR Childress verabreichte lediglich 60 mg/Tag. Diese Dosis verringert bei Tieren die Bereitschaft, Kokain, Alkohol u.a. zu konsumieren
Die Tierversuche haben mir die Augen geöffnet. Man musste die Dosis bis zu jenem Grenzwert erhöhen, an dem die Krankheit – theoretisch – ganz ausgelöscht werden konnte. Nichts anderes tat ich. Ich habe die neunfache Menge dessen eingenommen, was in der klinischen Forschung verabreicht wurde, um den Alkoholismus zu behandeln. 17 Jahre lang haben sie nur 30mg/Tag verabreicht. Diese Rationierung reduziert jedoch – wie bei den Tierversuchen – nur das Suchtverlangen. Ich habe einige Tage lang 270 mg/Tag eingenommen, was die Symptome unterdrückte und die Krankheit verdrängte. Danach habe ich die Dosis auf 120mg/Tag runter gesetzt.
Erfahrene Neurologen verabreichen ihren Patienten bekanntlich über Jahrzehnte hinweg bis zu 300 mg/Tag – aber nicht gegen eine tödliche Krankheit wie Alkoholismus! Nein: allein um das Befinden bei harmlosen Muskelbeschwerden zu verbessern. In den vergangenen 50 Jahren sind dabei keine gefährlichen Nebenwirkungen aufgetreten. Die verabreichenden Ärzte bestätigen, dass Baclofen ein sehr sicheres Medikament ist. Viel wichtiger ist jedoch, dass Baclofen nicht suchterzeugend ist. Professor Childress ist eine großartige Frau. Sie war unter den Ersten, die mir zur Entdeckung dieses neuen therapeutischen Models gratuliert haben.
Frage:
Selbstversuche besitzen in der Medizin Tradition: Lazzaro Spallanzani, Humphrey Davy, William Beaumont, Pettenkofer, Werner Forßman, Barry Marshall, um nur diese zu nennen. Der Begründer der Neuroonkologie, Jerome B. Posner, kommentierte Ihre Dosierungsversuche mit George Cotzias’ L-Dopa-Therapie bei Parkinson: Milligramm pro Milligramm zum Erfolg! Welche Erfahrungen machten Sie, Protokoll-Beginn 8. Januar 2004, mit Baclofen, die Geister, die Sie, frei nach Goethe, so lange riefen, Sie wurden Sie, initial in der "Le Lodge Bar" in Megève, endlich los?
Prof. Dr. Ameisen:
Der Vergleich mit den genannten Forschern und ihren Selbstversuchen scheint mir zu gewagt. Sie sind "Giganten", vor denen ich äußersten Respekt habe. Als ich schrittweise meine Baclofen-Dosis erhöht habe, bin ich genau dem Protokoll gefolgt, das auch von Neurologen eingehalten wird. Zunächst habe ich ein Wohlbefinden verspürt, das ich vorher nicht für möglich gehalten hätte. Ich habe wie ein Baby geschlafen. Meine Angst war vollkommen verschwunden. Meine Muskeln waren endlich ganz entspannt! Bis zu diesem Zeitpunkt hatte ich keine Vorstellung davon gehabt, was es heißt, sich gelöst zu fühlen. Zum ersten Mal in meinem Leben habe ich Selbstachtung, Selbstwert und Selbstvertrauen verspürt.
Nach fünf Behandlungswochen konnte ich nicht glauben, was passiert war. Ich sah Menschen mit alkoholischen Getränken in der Hand und es war mir egal. Normalerweise wird einem geraten, derartige Situationen nicht einmal zu beobachten, da man sonst gefährdet ist und wieder rückfällig wird. Ich sah mir also trinkende Menschen an, dann die Flaschen in der Bar. Doch ich war und blieb vollkommen gleichgültig. Ich verspürte nicht das geringste Verlangen. Ich habe geglaubt zu träumen, da mir die Experten immer aufs Neue versichert hatten, dass das Verlangen nie verschwinden würde. Und in der Literatur findet sich kein Hinweis auf Indifferenz gegenüber Alkohol. Ich dachte, dass meine Verfassung nicht lange anhalten könnte. Doch im Gegenteil: Ich reduzierte die Dosis und wenige Tage später waren 120mg/Tag ausreichend.
Alkoholexperten verlangen von ihren Patienten – und für den Großteil von ihnen ist das nahezu unmöglich – abstinent zu werden. Abstinenz bedeutet, dass man sich an jedem einzelnen Tag seines restlichen Lebens unentwegt bemühen muss, nie mehr zu trinken. Doch im Zustand der Abstinenz schlagen die ständigen Versuche, das Verlangen zu bekämpfen, fehl. Die Literatur belegt dies: Patienten, die unter den besten Bedingungen entgiftet werden, erleiden zu 80% einen vollständigen Rückfall in die Krankheit. Ein Leben in Abstinenz ist ein miserables Leben!
Bei mir jedoch wurde die Krankheit geheilt. Ich kann mich nicht einmal mehr daran erinnern, wie sich die Symptome angefühlt haben. Monate später habe ich, um anderen zu helfen, meinen eigenen Fallbericht veröffentlicht. Er wurde lobend besprochen sowie im offiziellen Magazin des National Council of Alcoholism und in Alcohol and Alcoholism publiziert. Es war eine schwierige Entscheidung, den Artikel unter meinem eigenen Namen zu veröffentlichen. Aber ich habe mich dazu entschlossen, um Stigma sowie Schuld und Scham anderer Leidtragender aufzubrechen.
Frage:
Professor Ameisen, zuletzt und an erster Stelle: Wir danken Ihnen, dass Sie den Mut haben, Ihre Erfahrungen so offenherzig zu diskutieren, vor allem in der Community. Ihr Buch besitzt von der Intensität der Schilderung Romanqualität – wäre nicht alles von Anfang bis Ende härteste Realität. Last, not least, Erfolg muss messbar sein, will sagen: Noch werden für Baclofen größere Studien erforderlich sein, was ganz persönlich wünschen Sie sich, mit Blick auf Ihre Selbstversuche und traditionelle Therapien?
Prof. Dr. Ameisen:
Ohne Frage, dass Patienten geheilt werden und dass meine Behandlungsmethode die größtmögliche Nutzung erfährt. Eine gute Nachricht ist, dass ich reichlich Unterstützung erfahre. Sie erwähnten Professor Jerome Posner, der vielen Kollegen sicherlich bekannt ist. Im vergangenen Jahr schrieb er mir eine E-Mail, die öffentlich zu zitieren er mir grünes Licht gab: „Man fragt sich, ob hoch dosiertes Baclofen die bevorzugte Behandlungsmethode wird, ohne dass kontrollierte Versuche stattgefunden haben. Werden nicht immer mehr Alkoholiker mit Baclofen behandelt und sich die Effizienz durch Mundpropaganda etablieren? Sollte das Medikament wie erwartet anschlagen, so werden keine Tests mehr nötig sein. Selbst wenn kontrollierte Studien keinen Overall-Benefit erbringen sollten, so ist doch klar, dass einige (wenn nicht alle) Patienten darauf reagieren.“
Sehr erfreulich für mich ist, dass sich durch „Das Ende meiner Sucht“ die Behandlung der Krankheit schon vollständig gewandelt hat. So hat Professor Jonathan Chick, der Chefredakteur von Alcohol and Alcoholism, sich zu dem ungewöhnlichen Schritt entschlossen, die Behandlung mit Baclofen öffentlich in den Medien zu unterstützen. Alcohol and Alcoholism schließt in der Rezension meines Buchs mit folgender Aussage: „Dieses Buch ist empfehlenswert. Es enthält ausreichend Material, um Baclofen ernsthaft für Patienten in Betracht zu ziehen, die nicht auf herkömmliche Behandlungsmethoden ansprechen. Es ist außerdem eine nützliche Bildungslektüre für Menschen, die sich professionell mit Suchterkrankungen beschäftigen sowie für diejenigen, die ein tieferes Verständnis von Alkoholabhängigkeit erlangen möchten.“ Außerdem setze ich sehr auf meine deutschen Kollegen, die mir gegenüber bemerkenswert aufgeschlossen sind. Doch eine der schönsten Erfahrungen in meinem Leben ist, dass ich jeden Tag mehrere E-Mails von Patienten aus Deutschland, Frankreich, USA, Neuseeland usf. erhalte. Dort heißt es unter anderem: „Sehr geehrter Professor Ameisen, Ihr Buch hat in wenigen Wochen mein Leben gerettet, da ich mich absolut mit Ihrer Geschichte identifizieren konnte. Ich habe meinen Arzt nach Baclofen gefragt. Er war einverstanden (es gab ja nichts zu verlieren!) und ein Wunder ist geschehen. Ich bin nicht nur geheilt, sondern ich fühle mich auch besser als jemals zuvor in meinem Leben. Baclofen verschafft mir ein Wohlbefinden, das ich mit Alkohol niemals erreicht habe!“
Grüße
Buck Dharma
Mittwoch 6. Juni 2012, 23:06
Federico...
Warum ??
Prof. Dr. Ameisen:
Der Vergleich mit den genannten Forschern und ihren Selbstversuchen scheint mir zu gewagt. Sie sind "Giganten", vor denen ich äußersten Respekt habe. Als ich schrittweise meine Baclofen-Dosis erhöht habe, bin ich genau dem Protokoll gefolgt, das auch von Neurologen eingehalten wird. Zunächst habe ich ein Wohlbefinden verspürt, das ich vorher nicht für möglich gehalten hätte. Ich habe wie ein Baby geschlafen. Meine Angst war vollkommen verschwunden. Meine Muskeln waren endlich ganz entspannt! Bis zu diesem Zeitpunkt hatte ich keine Vorstellung davon gehabt, was es heißt, sich gelöst zu fühlen. Zum ersten Mal in meinem Leben habe ich Selbstachtung, Selbstwert und Selbstvertrauen verspürt.
Nach fünf Behandlungswochen konnte ich nicht glauben, was passiert war. Ich sah Menschen mit alkoholischen Getränken in der Hand und es war mir egal. Normalerweise wird einem geraten, derartige Situationen nicht einmal zu beobachten, da man sonst gefährdet ist und wieder rückfällig wird. Ich sah mir also trinkende Menschen an, dann die Flaschen in der Bar. Doch ich war und blieb vollkommen gleichgültig. Ich verspürte nicht das geringste Verlangen. Ich habe geglaubt zu träumen, da mir die Experten immer aufs Neue versichert hatten, dass das Verlangen nie verschwinden würde. Und in der Literatur findet sich kein Hinweis auf Indifferenz gegenüber Alkohol. Ich dachte, dass meine Verfassung nicht lange anhalten könnte. Doch im Gegenteil: Ich reduzierte die Dosis und wenige Tage später waren 120mg/Tag ausreichend.
Alkoholexperten verlangen von ihren Patienten – und für den Großteil von ihnen ist das nahezu unmöglich – abstinent zu werden. Abstinenz bedeutet, dass man sich an jedem einzelnen Tag seines restlichen Lebens unentwegt bemühen muss, nie mehr zu trinken. Doch im Zustand der Abstinenz schlagen die ständigen Versuche, das Verlangen zu bekämpfen, fehl. Die Literatur belegt dies: Patienten, die unter den besten Bedingungen entgiftet werden, erleiden zu 80% einen vollständigen Rückfall in die Krankheit. Ein Leben in Abstinenz ist ein miserables Leben!
Bei mir jedoch wurde die Krankheit geheilt. Ich kann mich nicht einmal mehr daran erinnern, wie sich die Symptome angefühlt haben. Monate später habe ich, um anderen zu helfen, meinen eigenen Fallbericht veröffentlicht. Er wurde lobend besprochen sowie im offiziellen Magazin des National Council of Alcoholism und in Alcohol and Alcoholism publiziert. Es war eine schwierige Entscheidung, den Artikel unter meinem eigenen Namen zu veröffentlichen. Aber ich habe mich dazu entschlossen, um Stigma sowie Schuld und Scham anderer Leidtragender aufzubrechen.
Warum kriegen wir (ich und andere) das nicht so hin .. ?
Könnte es etwas mit "Lioresal" und "Generikum" zu tun haben _?
Entschuldige meine Zweifel....
LG
FF