Ein Nachruf auf Prof. Olivier Ameisen von Dr. Pascal Gache, einem praktizierenden Arzt (Internist) in Genf, Mitstreiter Olivier Ameisens der ersten Stunde, Co-Autor des
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. Insbesondere die letzten Absätze beschreiben Charakterzüge Olivier Ameisens, die einer breiten Öffentlichkeit bisher so nicht bekannt, oder allenfalls vage zu erahnen waren. Dies möge helfen, ihn besser zu verstehen.
Dr. Pascal Gache hat geschrieben:
Olivier Ameisen verstarb am 18. Juli 2013 in seiner Pariser Wohnung an einem Herzinfarkt. Innerhalb nur weniger Jahre ist sein Name tausenden Personen vertraut geworden: Alkoholkranken und ihren Angehörigen, Suchtmedizinern, Journalisten …
Olivier Ameisen schließt sein Abitur im Alter von 16 Jahren ab und schwankt zwischen einer Karriere als Pianist oder als Arzt, welch letztere er dann wählt. Er wird Kardiologe und arbeitet in New York, legt eine steile Karriere hin. Diese unterbricht er auf Grund seiner schweren Alkoholerkrankung, die er nicht mehr beherrscht und von der er befürchtet, dass sie zu einem ärztlichen Kunstfehler führen könnte.
Immer noch in den Vereinigten Staaten, versucht er gewissenhaft, letztendlich aber erfolglos, mit allen zur Verfügung stehenden therapeutischen Mitteln gegen seine Krankheit anzukämpfen: Entgiftungen, Ärztliche Betreuung, Medikamente (selbst
Antabus hielt ihn nicht vom Trinken ab), Klinikaufenthalte, Psychoanalysen und Verhaltenstherapien, Alternativmedizin, und natürlich auch unzählige Meetings der Anonymen Alkoholiker. All dies erzählt Olivier in seinem 2008 erschienen Buch „Das Ende meiner Sucht“ (Franz: „Le dernier verre“). Er beschreibt dort, wie er zu verstehen begann, worunter er litt, dass er nicht mehr trinken darf, weil er es nicht mehr stoppen kann, und sich sonst desaströse Folgen einstellen werden. Doch, um seinen schweren Angstzuständen zu begegnen, lässt ihn ein unwiderstehliches Verlangen immer wieder zum Glas greifen, es erlaubt ihm kein normales Leben. Nach Klinikaufenthalten versucht er abstinent zu bleiben, doch es ist eine Qual, jede einzelne Sekunde beschäftigen ihn diese unwiderstehlichen Gelüste, erneut zu trinken.
Olivier versteht, dass er an einer Krankheit leidet, die im Gegensatz zu dem, was man hier und da in Zeitschriften und Leitlinien liest, erst dann nachlässt, wenn es gelingt, das
Craving nach Alkohol auszuschalten, diese nahezu unbezwingbare Begierde nach dem Suchstoff. Und er weiß, dass das in seinem Fall sonst in den Tod führen wird, ist er doch an diesem bei einigen seiner exzessiven Trunkenheitsvorfälle nur knapp vorbeigeschrammt.
In seinen luziden Momenten beginnt er, alles darüber zu suchen und zu lesen, was ihn von diesem Craving und somit von seiner Sucht befreien könnte. Soweit seine Ausgangsthese. Und wie immer in solchen Fällen, ist es sowohl Glück als auch Beharrlichkeit, die ihm den möglichen Nutzen von Baclofen gewahr werden lassen. Glück deshalb, weil man ihm einen Artikel der „New York Times“ zuspielt, in dem ein an Paraplegie und Kokainsucht leidender Patient davon erzählt, wie das Medikament Baclofen, welches er zur Behandlung der Spastizität erhält, ihm erlaubte, seinen Kokainkonsum ganz markant zu reduzieren. Und Beharrlichkeit darum, weil Olivier alles sucht und liest, was es über Baclofen in der wissenschaftlichen Literatur zu finden gibt. Es ist nun 2003, und er entdeckt die ersten Arbeiten von Krupitsky, dann diejenigen von Addolorato und vor allem die Studie von Colombo, in der dieser die Unterdrückung - nicht etwa die Reduktion - des Alkoholkonsums bei auf Alkoholabhängig konditionierten Ratten beschreibt.
Dieser Effekt trat dosisabhängig bei 3 mg/kg Körpergewicht ein. Roberts, im Jahr 1997, beschrieb das Gleiche bei Ratten und Kokainabhängigkeit bei einer Dosis von 5 mg/kg. Olivier erkundigt sich bei Neurologen über die Toleranz des Medikaments und seine Nebenwirkungen. Nachdem er von ihnen erfuhr, dass in der Neurologie auch eine hohe Dosis möglich sei, beschließt er, eine Selbstmedikation durchzuführen. Er unternimmt zwei Versuche und beim letzten, nach 37 Tagen, erreicht er das von ihm gewünschte Resultat bei einer Dosis von 270 mg / Tag oder anders gerechnet bei 3.6 mg/kg. Das „Wunder“ nimmt seinen Lauf, er kann abstinent bleiben, ohne sich mit dem Craving herumschlagen zu müssen. Es ist verschwunden.
Überzeugt, ein Schlüsselelement für die Behandlung des Alkoholismus gefunden zu haben,
publiziert er seinen Fall, Dezember 2004, in der international angesehenen Fachzeitschrift „Alcohol and Alcoholism“. Er wartet zunächst ab und ist überzeugt, dass die Leserschaft enthusiastisch auf seinen Artikel reagieren werde. Er sollte sich irren. Nichts geschah, oder eben fast nichts. Keine begeisterten Kommentare, keine weiteren Aktionen. Tiefe Enttäuschung und Groll auf die Spezialisten der Suchtmedizin erfassen ihn. Er beschließt, bei den universitären Pforten anzuklopfen, um sich zu verdeutlichen und um praktizierende Ärzte für eine Studie zu finden, die seine Hypothese bestätigen würde. Auch dort hört man ihm zunächst zu, beglückwünscht ihn, verspricht, man werde sehen, nachdenken, versuchen, aber nichts geschieht, obwohl einige Leute guten Willens durchaus bereit sind, ihm zu folgen. Es ist ohne Zweifel zu früh.
Wetternd schreibt er Tag und Nacht geharnischte E-Mails und SMS' an all die Zaghaften, die ihn nicht begreifen wollen. Doch die Zeit vergeht und nichts passiert. Er wird jetzt ein Buch schreiben, um gehört zu werden. Oktober 2008 erscheint „Das Ende meiner Sucht“ (Franz: „Le dernier verre“). Und wenn Olivier bisher nur wenig Erfolg bei seinen Fachkollegen hatte, so hat er ihn jetzt bei den Journalisten … Auf breiter Ebene folgen Buchbesprechungen in Rundfunk und TV, in der Presse und im Internet. Die Neuigkeit verbreitet sich bei den Patienten im Tempo einer unter Feuer gesetzten Lunte aus Zündpulver. Ein Medikament, das den Alkoholismus heilen kann, aber nicht zur strikten Abstinenz verpflichtet, das kommt einem Schatz aus Gold gleich. Doch das Eldorado ist weit weg. Die Ärzte kennen das Medikament nicht und wollen es deshalb nicht verschreiben, die ärztlichen Fachverbände und die offiziellen staatlichen Aufsichtsorgane sprechen Warnungen aus. Nur einige wenige mutige Abweichler, meist nicht aus der suchtmedizinischen Nomenklatura hervor gehend, riskieren es, das Medikament zu verschreiben und sehen, wie ganze Busladungen von Patienten vor ihren Praxen vorfahren, Personen, die auf der Suche nach dem Heiligen Gral manchmal durch ganz Frankreich fahren oder sogar die Schweizer Grenze(!) überqueren.
Olivier versucht unermüdlich, weiter Überzeugungsarbeit zu leisten, gerät außer sich, niemand will ihn verstehen, so denkt er sich, ist selbst über die verschreibenden Ärzte verärgert, es geht nichts voran. Er wird ultra-sensibel. Wer nicht vollumfänglich für ihn ist, ist gegen ihn. Er beleidigt, schilt, verwarnt, schimpft ohne Unterlass gegen die Skeptiker, die Kleingläubigen, die Unentschlossenen, die Ängstlichen, die Zweifler, ja selbst gegen die eifrigsten Verfechter seiner Therapie, weil sie ihm nicht eifrig genug erscheinen. Leidenschaftlicher „Gladiator“, bis hin zum Extremen, Polemiker, kampfeslustig wenn er auf Widerspruch trifft, überzeugt von seiner Entdeckung, und dass man diese anerkennen müsse, führt Olivier seinen Kampf ohne Unterlass weiter, angetrieben und beseelt von der Überzeugung, dass die Hilfe für die Patienten dringlich ist. Er, der selbst unter dieser schrecklichen Krankheit, die einen Teil seines Lebens zu Grunde richtete, gelitten hat, und der sich wünscht, dass eine möglichst große Zahl von Personen von diesen Ketten befreit werde.
Seiner Hartnäckigkeit ist es zu verdanken, dass bisher Tausende Patienten von seinem therapeutischen Modell profitierten. Aber mehr noch als das: Mit seiner Vision zur Therapie des Alkoholismus hat er einen Wandel bei der Betreuung solcher Patienten in Gang gesetzt, indem er das Craving, dieser eigentliche Motor des Suchtverhaltens, ins Zentrum der Betrachtung und der Behandlung gerückt hat.
Die Zukunft der Baclofen-Therapie ist noch nicht festgeschrieben, es sind weitere Arbeiten im Gange. Sie sind es Dank Olivier Ameisens enormer Streitlust. Die Zukunft wird uns lehren, wann, wie und für wen Baclofen geeignet ist. Aber das Warten auf diese wissenschaftlich fundierten Ergebnisse soll uns nicht vergessen lassen, dass es in der Suchtmedizin, was den Alkohol betrifft, eine Ära des Vor- und des Nach-Baclofen gibt. Dafür sei Olivier Ameisen unendlich gedankt.
Seiner Lebensgefährtin Noëlle und ihrer Familie gilt unser tiefstes Beileid.