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 Betreff des Beitrags: Welt-Online: Wunderdroge für Alkoholiker
BeitragVerfasst: Montag 22. Februar 2010, 23:29 
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Der Medizin-Professor Olivier Ameisen ist durch ein Medikament gegen Muskelkrämpfe vom Alkohol losgekommen

Die Welt: Professor Ameisen, die New-York-State-Universität hat ihnen einen Professoren-Titel verliehen, weil Sie eine neue Therapie für Alkoholiker gefunden haben. In Ihrem Buch "Das Ende meiner Sucht" beschreiben Sie sehr offen die körperlichen und seelischen Abgründe, in die Sie der Alkohol selbst getrieben hat. Mussten Sie so drastisch werden?

Olivier Ameisen: Sie fanden das drastisch? Nun, es ist einfach die Realität gewesen. Ich war so gefangen in meiner Sucht, dass ich meiner Universität und dem Klinikum die Niederlegung meiner Ämter angeboten habe. Allerdings haben das Medical College der Cornell-Universität, an dem ich Medizinprofessor war, und das New York Hospital, wo ich als Herzspezialist arbeitete, mein Gesuch abgelehnt. Sie wollten mich behalten und waren sehr stolz, als ich von Präsident Chirac zum "Ritter der Ehrenlegion" ernannt wurde. Ich empfand es aber damals, wohl als Folge des geringen Selbstwertgefühles, das die Sucht mit sich bringt, als unverdient. Ich entschied mich, keine Patienten mehr zu behandeln, bis meine Krankheit vorbei war. Ich habe meine Familie und meine Freunde immer wieder vor den Kopf gestoßen und enttäuscht. Ich habe mich durch unzählige Entzugstherapien und Sitzungen bei den Anonymen Alkoholikern geschleppt. Ich hatte immer wieder Hoffnung - und habe die Sucht dennoch nicht besiegen können. Genau das habe ich im Buch beschrieben.

Die Welt: So offen wie Ihre Abstürze beschreiben Sie, wie Sie sich mit dem Wirkstoff Baclofen geheilt haben.

Ameisen: Stimmt. Seit 2004 nehme ich täglich maximal 120 Milligramm Baclofen. Ich hatte zunächst mit einer hohen Dosis begonnen und sie dann langsam gesenkt. Nach sechs Jahren war ich geheilt. Die Beschreibung meines Falles wird heute in der Fachliteratur als die erste Heilung einer Sucht bezeichnet. Ich habe eine Reihe von Vorträgen an der Harvard Medical School, der Columbia University, New York University und anderen berühmten Universitäten gehalten. Einige Ärzte haben nach meinen Vorträgen angefangen, ihren Patienten ebenfalls Baclofen zu verschreiben. Sie berichten, dass geradezu hoffnungslose Fälle geheilt wurden. Seit sechs Jahren kann ich ohne Probleme ein Glas Alkohol vor mir stehen sehen - ohne von der Sucht übermannt zu werden. Das "craving", also das unbändige Verlangen nach dem Stoff, ist weg. Und, besser noch: Auch wenn ich ein oder zwei Gläser trinke, entwickele ich nicht das geringste Verlangen. Für Alkoholiker und abstinente Alkoholiker ist das undenkbar. Ich bin also nicht abstinent, sondern Alkohol ist mir heute, dank Baclofen völlig gleichgültig.

Die Welt: Dieser Stoff wird gerne als eine "Wunderdroge" beschrieben ...

Ameisen: Aber das ist es nicht. Es gibt keine Wunderdrogen in der Medizin: Weder Penicillin noch Baclofen sind das. Sie vollbringen nur das Wunder, Patienten zu heilen.

Die Welt: Allerdings ist Baclofen nicht gegen die Sucht zugelassen.

Ameisen: Baclofen ist als Mittel bei bestimmten neurologischen Erkrankungen zugelassen. Nicht als Mittel gegen die Sucht. Aber jeder Arzt kann, wenn er das Einverständnis der Patienten hat, eine Arznei auch gegen Krankheiten einsetzen, für die sie nicht zugelassen ist. In den USA werden 25 Prozent aller Arzneien "off label" verschrieben, in der Psychiatrie sind es sogar 60 Prozent. Der Arzt soll verschreiben, was seiner begründeten Meinung nach seinem Patienten hilft. Und ich bekomme jeden Tag viele E-Mails von Suchtkranken, die geheilt wurden. Über 500 Patienten in den USA und Europa wurde mittlerweile von Spezialisten als "geheilt" bezeichnet. Die Patienten wollen das Mittel ausprobieren!

Die Welt: Aber Ärzte verschreiben meistens nur die Wirkstoffe, von denen gute Studien belegen, dass sie auch wirklich helfen. Und bei denen keine Nebenwirkungen auftreten. So will es das Ethos der Mediziner.

Ameisen: Mitnichten! Aspirin etwa wurde niemals gegen Kopfschmerzen getestet. Trotzdem nimmt es jeder. Und im Gegensatz zu Baclofen sind von Aspirin Nebenwirkungen wie Blutungen im Gehirn oder im Magen-Darm-Trakt bekannt. Aber Alkoholismus und seine Folgen töten allein in Deutschland jeden Tag etwa 200 Menschen. Und bei einer derart tödlichen Krankheit müssen wir Ärzte eine ethische Entscheidung treffen: Sollen wir die Patienten weiter leiden und sterben lassen? Oder sollen wir ihnen ein Medikament geben, von dem wir dadurch, dass es ein altes Medikament ist, sogar wissen, dass es sicher ist?

Die Welt: Aber Sie könnten ein Einzelfall sein. Man hört immer wieder von Patienten, die durch Selbstversuche geheilt wurden. Diese Selbstversuche sind gefährlich, weil niemand weiß, ob die Patienten wirklich durch den Wirkstoff, durch einen Placebo-Effekt oder durch irgendetwas anderes geheilt wurden.

Ameisen: Diese Frage konnte man sich stellen, solange ich der einzige Patient war, der geheilt wurde. Aber heute sind bereits viele Alkoholiker geheilt worden. Alle anderen Therapien haben ihnen nicht geholfen, nur Baclofen. Wenn also Baclofen durch einen Placebo-Effekt heilen sollte - nun, dann würde ich gerne ein Placebo verschreiben.

Die Welt: Warum verschreiben Ärzte Baclofen dann nicht standardmäßig?

Ameisen: Nun, die Ärzte in Frankreich, Großbritannien und den USA, die Baclofen verschreiben, sehen, dass ihre Patienten geheilt werden. In Frankreich habe ich aber die interessante Erfahrung gemacht, dass die Ärzte, die sich dagegen wehren, das Medikament zu verschreiben, meistens Sucht- und Alkoholismus-Spezialisten sind. Die Medien attackieren sie mittlerweile wegen unethischen Verhaltens. Sie werfen ihnen vor, sie wollten nur ihre Patienten nicht verlieren. Ich habe fünf Jahre lang dafür geworben, klinische Studien durchzuführen. Aber nichts ist passiert.

Die Welt: Warum?

Ameisen: Weil Baclofen heilt!

Die Welt: Klinische Studien sind bei einem Mittel, für das die Patente abgelaufen sind, sehr schwierig durchzusetzen - kein Pharmaunternehmen hat ein Interesse daran, Geld in die Studie zu stecken.

Ameisen: Das stimmt. Und den Pharmaunternehmen kann man da nicht einmal einen Vorwurf machen. Warum sollten sie Millionen Euro in Wirkstoffstudien stecken, bei denen kein patentiertes Medikament herauskommen wird und sie sich somit auch keinen Gewinn versprechen können? Schon seit meinem ersten Aufsatz im Jahr 2004 fordere ich eine große unabhängige Studie, die an einer Universität oder Klinik durchgeführt wird. Doch in den folgenden vier Jahren tat sich so gut wie nichts: Nur zwölf Alkoholpatienten weltweit wurden mit Baclofen behandelt. Seit mein Buch aber herausgekommen ist und sich nicht mehr nur das medizinische Fachpublikum mit dem Stoff beschäftigen konnte, sind viele kleine Studien angelaufen.

Die Welt: Auch in Berlin gibt es erste Vorbereitungen zu einer Studie.

Ameisen: Ja. Allerdings ist man in Deutschland bisher sehr zurückhaltend mit der Dosierung. Wissen Sie, in den letzten 20 Jahren haben viele Studien gezeigt, dass 30 bis 60 Milligramm nichts bringen. Dennoch werden Studien mit 30 Milligramm durchgeführt. Aber das ist viel zu wenig. Ich selbst habe bis zu 270 Milligramm pro Tag eingenommen. Neurologiepatienten werden sogar mit bis zu 400 Milligramm behandelt. Im französischen Villejuif habe ich mit Renaud de Beaurepaire, dem Chef der Psychiatrie, 150 Patienten behandelt. Das Ergebnis: Rund 150 Milligramm sind nötig.

Die Welt: In Deutschland, dem Mutterland des Contergan-Skandals, ist man zurückhaltend bei Wirkstoffen in beliebig hoher Dosis. Bei Baclofen etwa sieht sich die zuständige Behörde gezwungen, falschen Berichten nachzugehen, nach denen Studien ohne Zulassung laufen. Und das nur, weil Suchtforscher die Durchführung einer Studie beantragt haben. Die Forscher geraten durch den Wirbel um Ihr Buch, massiv unter Druck. Das verbessert die Aussichten auf Genehmigung einer Studie nicht eben. Ist Ihre Strategie, laut an die Öffentlichkeit zu gehen, die richtige?

Ameisen: Ja, ganz offensichtlich! Andreas Heinz von der Charité hat in der Günther-Jauch-Show gesagt, dass er, bevor er mein Buch gelesen hat, nichts davon wusste, dass Baclofen in hohen Dosen so wirksam ist. Er wurde erst darauf aufmerksam, als er Anrufe von Patienten erhielt, die mein Buch gelesen hatten. Und das Buch ist in Deutschland fünf Jahre nach meinem ersten Fachartikel erschienen und ein Jahr nachdem die Zeitschrift "Alcohol and Alcoholism" meine Therapie offiziell befürwortet hat.

Die Welt: Ist es vielleicht schon zu spät für klinische Studien?

Ameisen: Nun, es ist natürlich schön, wenn Suchtexperten endlich ihren Job machen. Aber Jerome Posner, einer der angesehensten Neurologen der Welt, hat mir geschrieben, dass hoch dosiertes Baclofen vielleicht die Therapie der Wahl werden wird, ohne jemals eine kontrollierte Studie durchlaufen zu haben. Einfach nur durch Mundpropaganda. Selbst wenn Experten Baclofen ignorieren, sollte das die Patienten nicht daran hindern, es zu bekommen. Und Baclofen ist etwas ganz anderes als Contergan: Contergan war nämlich ein geprüfter, patentierter, aber neuer Wirkstoff. Baclofen wird schon lange eingesetzt - und seit einem halben Jahrhundert wurden keine gefährlichen Nebenwirkungen bekannt.

Die Welt: Sie hatten in Ihrer Zeit als Alkoholiker massive Angstzustände ...

Ameisen: Ja. Abhängige haben häufig Ängste. Deshalb greifen viele Patienten zum Alkohol - sie fühlen sich dann besser. Baclofen unterdrückt die Ängste. Man bekommt mehr Selbstvertrauen. Deshalb wirkt es ja auch so gut. Und Baclofen macht nicht abhängig.

Die Welt: Hilft Baclofen also auch bei anderen Abhängigkeiten?

Ameisen: In Frankreich wird Baclofen auch gegen Nikotinsucht und Bulimie eingesetzt. Und: Es wirkt. Deutsche Ärzte werden dem folgen. Auch wenn Baclofen nur einigen, nicht allen Süchtigen helfen würde, dann wären das sehr viele. Die Einzigen, bei denen es nicht wirkt, sind die, die es nicht bekommen.

http://www.welt.de/die-welt/wissen/article6476251/Wunderdroge-fuer-Alkoholiker.html


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