Web Modus
Antwort erstellen

Tabuthema Depression – Stigma ist überall

Dienstag 6. März 2012, 15:33

„Aber ich hoffe trotzdem, dass Menschen, die mentale Probleme haben, den Mut finden, sich zu äußern. Durch die Masse könnte sich vielleicht doch etwas verändern.“

Interview in der SZ mit Andreas Biermann über Gesellschaft, Ausgrenzung und Umgang mit mentalen Problemen.

Re: Tabuthema Depression – Stigma ist überall

Dienstag 6. März 2012, 21:00

hallo federico,

stigma ist noch harmlos.

ich leide ja an einer besonderen form der depression, der bipolar-affektiven-störung.
nach langem leidensweg bin ich derzeit stressbefreiter.
ich genieße mein derzeitiges leben als eu-rentner.

ich selber bin aus einer medizinerfamilie, bruder, schwester, mutter, schwiegerfamilie, ehefrau, ware/sind alle mediziner, mich eingeschlossen.
und selbst in diesen kreisen wird eine depression als "charakterschwäche", ähnlich der alkoholkrankheit, angesehen.

"man muss sich nur mal zusammen reißen....." ist noch harmlos.

ich lese grade mit begeisterung das buch von Oliver.
beim lesen fiehl mir die besondere, persönliche entlastung durch diesen neuen weg auf.
es ist nicht meine "charakterschwäche" die mich leiden läßt/ließ, sondern eine organische störung, die medikamentös behandelbar ist.
die moralsiche (selbst-) erniedrigung gehört für mich der vergangenheit an.

ähnlich ergeht es mir mit meiner bipolarität.
früher habe ich öfter versucht, meine erkrankung erklären zu wollen/müssen.
dies mach ich nicht mehr.
wenn ich heute gefragt werde warum ich berentet bin, sage ich einfach, ich habe eine stoffwechselerkrankung - ende.

und genauso sehe ich mittlerweile auch meine alkoholerkrankung.
eine simple stoffwechselstörung.
behandelbar wie diabetes.
und einem diabetiker typ 1 wird niemand einen vorwurf machen, dass seine pankreas kein insulin mehr produziert....

wünschenswert wäre nur noch eine möglichst rasche verbreitung dieses wissens in der fachwelt und der gesellschaft.
aber auch auf diesen gebieten wird ein wandel geschehen...... da bin ich mir ziemlich sicher.

zurück zur depression.
leider werden auf diesem gebiet nur kurzfristig die aufmerksamkeiten erregt, um genauso schnell wieder in der versenkung zu verschwinden.
die antidepressive wirkung von sport wurde ja mitlerweile auch widerlegt.... leider sehr drastisch.

vielleicht bietet bac noch auf verschiedenen gebieten forschungsanreiz. vielleicht wird bac bald auch bei depressionen oder zwangserkrankungen standartmedikation. den patienten wäre es zu gönnen....
(ich erinnere mich an zwangspatienten, denen schon äußerlich ihr muskuläre verspannung anzusehen war....)

aus meiner eigenen erinnerung weiß ich nur zu genau, welche "verspannungen" ich als kind schon hatte, weil ich nie wirklich wusste, wie ich nun eigentlich sein sollte??
mein spannungslösungsmittel war dann irgendwann der alk.
ich hoffe diese zeit wird nun der vergangenheit angehören

lg
lamo

ps:
vielleicht ergeben sich ja auch noch positive einflüsse bezogen auf meine bipolarität. wünschenswert wäre es.

Re: Tabuthema Depression – Stigma ist überall

Mittwoch 7. März 2012, 08:16

Hi Lamo

ich selber bin aus einer medizinerfamilie, bruder, schwester, mutter, schwiegerfamilie, ehefrau, ware/sind alle mediziner, mich eingeschlossen.
und selbst in diesen kreisen wird eine depression als "charakterschwäche", ähnlich der alkoholkrankheit, angesehen.

"man muss sich nur mal zusammen reißen....." ist noch harmlos.


Das ist traurig, gerade medizinisch Ausgebildete wissen nur schon auf Grund dessen, was sie mal gelernt haben, dass diese Erkrankungen nichts mit Willen oder Charakterschwäche zu tun haben.
Und dass Aufforderungen genau das Gegenteil bewirken.

Bis jetzt wusste ich das theoretisch ( bin Pflegefachfrau )

hatte nun die letzten 7 Monate ein Burnout und weiss es nun praktisch auch noch, wie das ist.
Schon kleinste Ratschläge oder Ermunterungen:

was tust du noch gerne, geh doch mal schwimmen..

stressten mich noch mehr.

LG

milli

Re: Tabuthema Depression – Stigma ist überall

Mittwoch 7. März 2012, 08:45

vielleicht ergeben sich ja auch noch positive einflüsse bezogen auf meine bipolarität. wünschenswert wäre es.

@Lamo,

meine eigene Erfahrung sagt vorsichtig ja, es ist sehr wahrscheinlich, aber es dauert einige Zeit. Wenn Du das Gefühl hast, du wirst gefühllos und verhärtet, zeigen sich diese Einflüsse. Spätestens dann wäre es wichtig sich therapeutische Hilfe zu holen, denn diese ungewohnte Gefühlskälte wird von Bipolaren oft falsch interpretiert. Sie fühlen sich unwohl in ihrer Haut und flüchten ... ein verständlicher Reflex.

LG Federico

Re: Tabuthema Depression – Stigma ist überall

Mittwoch 7. März 2012, 11:16

Bei Sport und psychischen Erkrankungen zeigt sich IMHO wie manifest in den Koepfen noch rumgeistert: "In einem gesunden Koerper wohnt ein gesunder Geist". Oder, besser gesagt, da hat er gefaelligst zu wohnen.
Obwohl der Spruch viel aelter ist, wurde er doch in einer Zeit besonders gerne verwendet, in der auch viele, heute noch angewendete Verfahren, in der Psychiatrie ihren Ursprung haben.
Woher kommt es wohl, dass sich deutsche Profifussballer wie kleine Kinder einsperren lassen um keinen Kontakt zur Frau/Freundin zu haben? Bloedzeitung berichtet ja immer wieder darueber...
In dieser Zeit steckt IMHO noch vieles fest, was sich auch im Umgang mit alkoholkranken zeigt. Nur heute nennt es sich qualifizierte Entgiftung nach ISO sowieso.

Rico

Re: Tabuthema Depression – Stigma ist überall

Sonntag 11. März 2012, 17:07

rico hat geschrieben: "In einem gesunden Koerper wohnt ein gesunder Geist". Oder, besser gesagt, da hat er gefaelligst zu wohnen.
Obwohl der Spruch viel aelter ist, wurde er doch in einer Zeit besonders gerne verwendet, in der auch viele, heute noch angewendete Verfahren, in der Psychiatrie ihren Ursprung haben.



Das Original dieses Spruches gefällt mir übrigens sehr viel besser:

Juvenal, Satiren 10, 356: Orandum est ut sit mens sana in corpore sano.

Beten sollte man darum, dass in einem gesunden Körper ein gesunder Geist sei.

Ich kenne ihn auch, diesen Spruch von meinem Vater und diversen Ärzten: "Treib(en Sie) Sport!" Immer in bezug auf meine Zappeligkeit und nicht enden wollende innere Unruhe. Wenn ich den Spruch heute höre, kann es wirklich passieren, dass mir der Hutdeckel wegfliegt.

Das mit der Gesundheit des Sportes ist auch nur so eine verlogene Legitimationskrücke des äußerst ungesunden professionellen Sports, der eine eindeutig gesellschaftliche Funktion (panem et circenses, um nochmals einen Ausflug in die römische Antike zu unternehmen) besitzt - mit einer riesigen Industrie dahinter.

Ich selbst betreibe ziemlich exzessiv Sport - Langlauf, Extremwanderungen (auch in der Wüste oder wüstenähnlichen Gebieten), Fahrradtrekking - gesund ist das aber ganz sicher nicht. Aber es macht mir Spass, und so nehme ich die gesundheitlichen Nachteile wie vor der Zeit stark abgenutzte Gelenke in Kauf. Aber eine innerliche Ruhe kehrt dadurch nicht ein, allenfalls eine körperliche Müdigkeit, die mich schon des Abends um neun Uhr in die Kiste fallen läßt, anstatt um zwölf. So what?

Im Grunde genommen geht es doch letztendlich auch darum, den Schwarzen Peter wieder mal an den Kranken zu schieben: "Würden Sie Sport treiben!"

Sagt man so was eigentlich auch zu Krebskranken? Oder Diabetikern? "- Hätten Sie Sport getrieben, dann ...!" Ausschließen möchte ich es nicht.

Schluss jetzt! - Ich kriege bei so was, von eigener elender Erfahrung geprägt, bloß üble Laune.

Ciao!

Claus Peter

Re: Tabuthema Depression – Stigma ist überall

Sonntag 11. März 2012, 17:40

Juvenals eigentliche Absicht zielte darauf, diejenigen seiner römischen Mitbürger zu geißeln, die sich mit törichten Gebeten und Fürbitten an die Götter wandten. Beten, meint er, solle man allenfalls um körperliche und geistige Gesundheit.

Mens sana in corpore sano ist also nur im Zusammenhang mit dem Sinn und Inhalt von Fürbitten und Gebeten zu verstehen. Er hat also als Satiriker keineswegs behauptet, dass ausschließlich in einem gesunden Körper ein gesunder Geist stecke, sondern nur – da er meist das Gegenteil davon erlebt hatte –, dass es wünschenswert sei, wenn dem so wäre.

Juvenal hat somit auch die sportlichen Idole seiner Zeit (60–127 n. Chr.) parodiert, deren geistige Fähigkeiten seiner Meinung nach wohl häufig hinter den körperlichen zurücktraten.

Die geistigen Nachfahren der Nazis bieten in ihrer Einfalt auch heute gute Einblicke in deren nicht vorhandene geistige Fähigkeiten. Herr lass Hirn regnen, mein aktueller Vorschlag für's Gebet.

Schönen Sonntag noch wünscht
Federico

Re: Tabuthema Depression – Stigma ist überall

Sonntag 11. März 2012, 18:38

Federico hat geschrieben:Juvenal hat somit auch die sportlichen Idole seiner Zeit (60–127 n. Chr.) parodiert, deren geistige Fähigkeiten seiner Meinung nach wohl häufig hinter den körperlichen zurücktraten.


Da hat sich nichts geändert, was die geistigen Fähigkeiten von Spitzensportlern im Schnitt so angeht. Natürlich mit den üblichen Ausnahmen.


"... und geschiehet nichts Neues unter der Sonne. Geschiehet auch etwas, davon man sagen möchte: Siehe, das ist neu? Denn es ist zuvor auch geschehen in vorigen Zeiten, die vor uns gewesen sind." Salomon


Ciao!

Claus Peter

Re: Tabuthema Depression – Stigma ist überall

Sonntag 11. März 2012, 19:00

Federico hat geschrieben:
....
Herr lass Hirn regnen, mein aktueller Vorschlag für's Gebet.
....
Federico


Da haeng ich immer gerne an:
Aber in dicken, tiefgekuehlten Brocken. :-)

Rico
Antwort erstellen