Die Szene gehört zum kulturellen Bilderkanon der westlichen Welt:
Da sitzt der Tippelbruder auf der Bank mit einer großen Flasche Billigfusel.
Schicksalsschläge haben den Alkohol zu seinem engsten Verbündeten gemacht.
Seine Arbeit hat er verloren, die Freunde auch. Diesem Stereotyp zufolge sind
es vor allem die Verlierer, die zu Trinkern werden. Und die anderen,
die Besserverdiener und Besserversteher? Probieren gelegentlich einen edlen Roten,
genießen kennerhaft und wissen, dass jene kastilische Südlage ihre Koronararterien
geschmeidig hält.
Weit gefehlt. Zwar gibt es in benachteiligten Kreisen überproportional viel Alkoholkonsum,
gerade unter Männern. Unter jenen, die Arbeit haben, greifen aber besonders die Fleißigen
zur Flasche. Eine große Analyse im
British Medical Journal, die an diesem Mittwoch erscheint,
zeigt, dass wer mehr arbeitet auch mehr trinkt. Ein internationaler Forscherverbund um
Marianna Virtanen hat die Arbeitszeiten und Lebensgewohnheiten von 333 000 Menschen
quer durch Europa ausgewertet. Demnach trinken Arbeitnehmer, die 48 bis 55 Stunden oder
mehr in der Woche mit ihrem Job zubringen, im Mittel 13 Prozent mehr Alkohol als jene,
die sich an Standardzeiten von 35 bis 40 Stunden halten.
Wer viel arbeitet, neigt auch zu riskanterem Alkoholkonsum. Darunter verstehen
Suchtmediziner mehr als 14 Drinks für Frauen und mehr als 21 für Männer in der Woche.
Als Drink gilt ein kleiner Schnaps, ein Achtelliter Wein oder ein Viertelliter Bier. Wird diese
Dosis regelmäßig überschritten, drohen Leber, Hirn, Herz und andere Organe Schaden zu
nehmen. Dass viel Arbeit viel Alkohol nach sich zieht, gilt laut aktueller Analyse gleichermaßen
für Männer wie Frauen, in allen sozialen Schichten und Ländern. „Es ist interessant, dass die
negativen Folgen exzessiver Arbeitswut unabhängig von Geschlecht, Alter oder Klasse sind“,
sagt Karl-Heinz Ladwig vom Helmholtz Zentrum München, der an der Studie beteiligt war.
„Wenn der Druck im Job hoch ist und Anforderungen zunehmen, machen Menschen
Überstunden“, sagt Virtanen. „Dadurch werden Belastungen aber nicht weniger, im Gegenteil -
um den Stress zu lindern, greifen Menschen zum Alkohol.“ Typ-A-Persönlichkeiten seien
besonders gefährdet; jene latent aggressiven und leicht reizbaren Kollegen, die chronisch
ehrgeizig sind und noch mehr in noch kürzerer Zeit schaffen wollen. Ihre Devise: Work hard,
play hard - fest arbeiten, fest feiern. Alkohol hat für sie ein positives Image. „Das sind diese
vermeintlich harten Typen, doch ihre Mehrarbeit führt zu selbstschädigendem Verhalten “,
sagt Ladwig.
„Alkohol betäubt schnell wirksam und verfügbar die Pein, die der Job mit sich bringt,
und dämpft den Übergang vom Arbeits- zum Privatleben“, sagt die Harvard-Soziologin
Cassandra Okechukwu. „Aus Gründen der Gesundheitsvorsorge müsste man Arbeitszeiten
strikt begrenzen.“ Daran hält sich trotz 37,5-Stunden-Woche und diversen Vorschriften
längst nicht jeder, was auch daran liegt, dass Politik wie Wirtschaft profitieren:
Solange in erster Linie die Fleißigen und Ehrgeizigen saufen, muss der Nutzen wohl größer
als der Schaden sein.
Quelle: SZ