Auch ich bin wieder froh, denn es geht seinen Gang
It works.
Es tut seine Arbeit.
Es funktioniert, aber nicht immer sofort ;-)
Geduld, Geduld, Geduld
Liebe Leser im Forum,
nach fast einem Jahr - dass ich nicht mehr so genau aufs Datum achte, hat auch etwas mit "im Flusse sein" zu tun - möchte ich hier Zeugnis ablegen, dass ich ein neues Leben lebe.
Eine über 30-jährige Zeit der Verzweiflung, des Argwohns, der Angst und trügerischen Hoffnung auf eine Wende, der Aussichtslosigkeit und der Kapitulation und des dennoch regelmäßig neu erwachenden Kampfeswillens und des Mutes ist nun vorüber. Es ist ein Punkt des Neubeginns erreicht, und es geht ein grundlegend beruhigender Alltag seinen Gang und wir unseren Weg. Im Augenblick ist in meinem Herzen eine Insel des Friedens, es wirkt so, als könne ich diese in gut zu überstehenden Abständen immer wieder besuchen.
2011 wagte ich nach langer Pause noch einmal eine Beratung über Alkoholkrankheit, gedrängt vom Leidensdruck in der Liebe zu dem in Glück, Überschwang, Scham und Not trinkenden Mann. "Was sollte ich schon noch lernen?", dachte ich hochmütig. So viele Ratgeber hatte ich gelesen und auch studiert, Beratungen besucht, selbst Psychotherapie gehabt, mir selbst durch Anwendung einiger gelernter (weniger) Dinge und große Veränderungen in meinem Alltag (z.B. eigene Wohnung bezogen) eine Art Schliff und Profil erarbeitet und immer wieder mit meinem (lang schon) geschiedenen Mann geredet und geredet. Ja, das konnten wir in vorzüglicher Art, wenn auch nur während kurzer glücklicher Zeiten und in Umständen, die sich trotz der stärker werdenden psychischen und körperlichen Abhängigkeit vom Alkohol wiederholt einstellten. Natürlich ergaben sich, dem Krankheitsverlauf entsprechend, viele, viele Gelegenheiten weniger. Zum Schluss erlebten wir gar keine mehr, vielleicht ein kurzes Aufblitzen wie durch einen Türspalt. Dann fiel die Tür wieder ins Schloss. Ich hatte mühsam und äußerst ungern gelernt, meine Befindlichkeitsstörungen ohne die Hilfe meines Mannes auszugleichen. Aber unbestritten, er war und ist ein Talent im Umgang mit Menschen: durch Beobachtungsgabe und Einfühlungsvermögen samt diplomatischem Gespür vermag er Sympathien zu erringen und eigene Ziele zu erreichen. Die Alkoholabstürze machten regelmäßig alles wieder nieder.
2011 also lernte ich zwei wesentliche lapidare Grundsätze als neuen Lernstoff für mich:
1. Die Suchterkrankung ist gekennzeichnet durch lange, sehr lange Verläufe.
(Das war so entlastend gegen die drückenden Vorwürfe meiner Umwelt, ich sei nicht stark genug [gewesen], mich von einem meine Erwartungen nicht erfüllenden Menschen zu trennen.)
2. Wenn der Angehörige bleibt und die Krankheit aushält, dann bekommt er etwas dafür, was ihn bei der Stange hält.
(Ich war also nicht schwachsinnig, dass ich das "mit mir machen ließ". Mir fiel auch gleich ein, worauf ich all die Jahre hoffen konnte: gegenseitiges Verstehen, natürlich, spontan, zuverlässig, ein Wunder an Einanderangehören ... und vieles mehr.)
Aber ich hatte gelernt, allein für mich klar zu kommen. Obendrein – welch ein Durchbruch für mich, die ich nicht religiös erzogen worden bin – hatte ich in der Not Gottesglauben entdeckt, mit Gewohnheiten verstärkt und zaghaft begonnen, immer wieder mich dahin, in eine Gottesnähe, zu begeben.
Ich sagte mir endlich:
Es ist eine psychische Krankheit.
Es ist nicht in meiner Macht, diese Krankheit zum Verschwinden zu bringen, nicht mal ihren Verlauf kann ich verbessern, allerhöchstens ihre Auswirkungen mal hier, mal da etwas, ganz klein wenig lindern.
Ich werde, solange ich es selbst brauche, diese Linderungsversuche fortsetzen. Ich werde es bis zu einem Ende tun, mag dies kommen, wie es wolle. (Das hielt ich nicht zu jeder Zeit durch, aber ich zwang mich, es bis in die letzte Instanz immer wieder neu zu denken.) Bei einer körperlichen Krankheit würde die Umgebung auch nicht erwarten, dass der Kranke im Stich gelassen wird. Also beschloss ich für mich, dass ich – auch bei dieser schweren psychischen Erkrankung – den Kranken nicht verlassen würde. Ich erklärte die sich wiederholenden Katastrophen als mich panisch erschreckende Erscheinungen, die in ihrem Kern bei Gott aufgehoben sind und deren Bild ich eines Tages entschleiern (eine unmögliche Hoffnung, aber hoffen darf man) und deren Wirkung auf mich ich aushalten, vielleicht auch mit der Zeit abschwächen würde können. Wodurch? Durch Bemühen um Pflege meiner Gesundheit (Widerstandskraft) und einen Glauben an Etwas, größer als wir.
Ich achte die Entscheidung anderer Menschen, die gegenteilig von dem sein kann und trotzdem gut.
Baclofen begegnete mir, als ich wieder verzweifelt um Antworten rang bzw. einen Anfang für das Fassen von Entschlüssen für die nächsten Schritte suchte. Etwas war in Euerem Forum anders! Ich kann es vielleicht als Bodenständigkeit, Gefasstheit, ja sogar eine Art völlig neue Empfindung beschreiben, die ich hatte, ähnlich einem frierenden Mensch, welcher plötzlich in eine warme Bahnhofswartehalle eintritt.
Als mein kranker Mann noch völlig betrunken ums wieder Aufhören kämpfte (er hatte unzählige Male immer wieder aufgehört! Darauf muss man schauen.), sagte ich ihm nur: "Sei nur ganz ruhig, es gibt noch einen Weg." In der Zwischenzeit las ich Olivier Ameisens Buch, machte mir Notizen und erhielt – Gott danke es ihm – von Frieder den Hinweis auf einen guten Arzt in der Wohnortnähe. Mein Mann absolvierte erfolgreich eine Entgiftung und ging danach zu diesem Arzt. Es folgte eine Zeit der Unentschiedenheit, in welcher ich hier im Forum wunderbar unterstützt wurde. Baclofen wirkte, wurde aber beeinträchtigt von der altbekannten anderen Substanz. Ich schreibe mal lieber nichts von der Wirkung auf mich, stellt es Euch mal wie einen (milden) Orkan vor ... *schmunzel*
Wie wirkt Baclofen? Es verhilft dem Menschen, der es nutzt, zu einem einsatzfähigen, tatkräftigen Wesen. Er ist ein Mensch, der gut ißt, seit Monaten regelmäßigen, ausreichenden Schlaf schläft, die Misslichkeiten des Alltag gelassen nimmt, ständig Entscheidungen trifft, was er (jetzt) nicht ändern kann und was er (demnächst) verändern, beschaffen, aufbauen sollte, der Lösungen sucht und genügend findet, um den nächsten Tag kommen zu lassen. Ein Mensch, der sich und die Welt aushält. Maßvoll Bier ist gelegentlich dabei, es muss aber keinen Ausgleich mehr schaffen, weil der Mann bereits vor dem Genuss desselben im Lot ist.
Wir leben. Danke
Liebe Grüße mit vielen guten Wünschen,
Marit