Selbstversuch eines Alkoholikers
Ausweg aus der Sucht
von Solveig Bach
Manchmal eröffnen Bücher einen neuen Blick: Eines, was mit großer Wahrscheinlichkeit eine menschlichere Sicht auf Abhängige verschafft, ist "Das Ende meiner Sucht" von Oliver Ameisen.
Das 318 Seiten umfassende Buch ist im Kunstmann-Verlag erschienen.
Alkohol gehört zu den legalen und eindeutig auch zu den sozial akzeptierten Drogen, wenn man denn eine bestimmte Grenze nicht überschreitet. Olivier Ameisen hat diese Grenze immer wieder überschritten, aber selbst, als ihm schon längst klar war, dass er Alkoholiker ist, war der Drang zu trinken, stärker als er.
Ameisen ist das Kind von Holocaust-Überlebenden, ein hochbegabter Mensch, der begnadet Klavier spielt, die Schulzeit und sein Medizin-Studium in Rekordzeit mit besten Ergebnissen absolviert, innerhalb kürzester Zeit zum Leibarzt des französischen Präsidenten aufsteigt, anschließend zu einer Blitzkarriere in den USA durchstartet. Ein Mensch, den das Leben und die Menschen lieben, mit Geld und ohne Probleme, möchte man meinen.
Leben in einem Laufrad
Doch Ameisen ist auch voller Angst. Nach zwei Scotch spielt er freier Klavier, bewegt sich müheloser auf dem gesellschaftlichen Parkett. Viele Jahre lang bekämpft er seine Ängste mit "maßvollem Trinken". Doch irgendwann gerät sein fragiles Gerüst endgültig ins Wanken, er trinkt immer öfter und immer mehr, bis er nicht mehr aufhören kann.
Ameisen hat das, was vielen Süchtigen fehlt, Krankheitseinsicht. Doch was er auch an Behandlungsmethoden versucht, sein Verlangen nach Alkohol wird nicht geringer. Er geht zu den anonymen Alkoholikern, er nimmt Medikamente, er entgiftet, verbringt Monate in Entzugskliniken und säuft anschließend wieder. Er schließt seine Praxis, kehrt nach Frankreich zurück und trinkt weiter. Er wandelt auf einem schmalen Grat, setzt seine Gesundheit aufs Spiel, er stürzt immer öfter, verletzt sich erheblich und kann doch nicht aufhören zu trinken.
Rettung im Selbstversuch
Doch inmitten dieses Suchtkreislaufes gibt es auch immer den Arzt Ameisen und der sucht für den Patient Ameisen nach einer Therapie. Er ist von Anfang an davon überzeugt, dass es die Angst ist, die die Alkoholsucht erzeugt und nicht umgekehrt. Der Einstieg in "Das Ende meiner Sucht" beginnt mit einem Artikel aus der "New York Times". Darin wird über eine Forscherin berichtet, die nach der Gabe des muskelentspannenden Medikaments Baclofen bei Kokainsüchtigen die Nebenwirkung entdeckt hatte, dass das Verlangen nach der Droge nachließ.
Dieser Spur folgt Ameisen nun, er testet Baclofen im Selbstversuch und kann tatsächlich aufhören zu trinken. Er veröffentlicht seine Ergebnisse in medizinischen Fachzeitschriften und gesundet. Ameisen war offenbar wichtig, die Wirkung von Baclofen bei Abhängigkeit bekannt zu machen und er hat im Anhang seines Buches medizinische Aufsätze zusammengestellt, in denen es um die Wirkung von Baclofen in der Suchtbehandlung geht. Dieser Teil macht beinahe ein Drittel des Buches aus, was wohl für Ameisens Ernsthaftigkeit und Seriosität spricht. Als Nicht-Arzt lässt sich allerdings der wissenschaftliche Wert seiner Entdeckung nur schwer einschätzen, auch wenn nach Ameisen inzwischen weitere Menschen mit dem Medikament von ihrer Sucht geheilt werden konnten.
An das Unglaubliche glauben
Doch was Ameisen über den Weg in die Sucht, über den Alltag mit der Abhängigkeit schreibt, ist atemberaubend zu lesen, weil es uns mit unseren Vorurteilen konfrontiert und sie gleichzeitig über den Haufen wirft. Das ist kein willensschwacher Trinker, das ist ein brillanter Mediziner, der Hilfe sucht und dennoch beinahe am Alkohol zugrunde geht. Am Ende rettet ihn ein Medikament, doch genauso wichtig waren über die langen Jahre der Sucht offenbar die Menschen, die den Glauben an ihn nie verloren haben.
Manchmal eröffnen Bücher einen neuen Blick, Ameisens Buch tut das, er lässt die Verzweiflung und die Scham hinter sich. Er wirbt für eine menschlichere Sicht auf Abhängige und für komplexere Behandlungsmethoden, in denen möglicherweise auch sein Rettungsmedikament eine Rolle spielen kann.
Liebe Grüße
Raik
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