Montag 18. Juni 2012, 16:00
Es ist schwierig, einem Menschen etwas begreiflich zu machen, wenn sein Gehalt darauf beruht es nicht zu begreifen. (Upton Sinclair)Davon konnte man ausgehen. Stimmt wohl nicht immer wie ich feststellen musste, als ich diesen Artikel von Dr. Bernd Schneider las. Bernd Schneider ist Gründungsmitglied der
Deutschen Gesellschaft für Suchtpsychologie und langjähriger Leiter der
AHG Gesundheitsdienst Tönisstein Koblenz Das Abstinenzparadigma wackelt.
Abstinenz als Ziel aller Hilfen? Bernd Schneider, Fachklinik Bad Tönisstein
Die Infragestellung der “Abstinenz als Ziel aller Hilfen” in der Überschrift macht deutlich, daß das in der Suchttherapie bislang so bedeutsame Abstinenzparadigma auch in dem vorliegenden Beitrag kritisch hinterfragt wird. Die Kritik an lang gepflegten und gehegten Konzepten innerhalb eines Bereiches ist häufig notwendig und kennzeichnet einen zunehmenden Erkenntnisgewinn.
Dieser Erkenntnisgewinn stößt jedoch nicht bei allen Vertretern der Disziplin auf ungeteilte Zustimmung und ruft im Gegenteil sogar barsche Ablehnung und unkritisches Verharren in alten Denkmustern und Handlungsstrukturen hervor. Aber auch die Befürworter neuer Erkenntnisse lassen sich nicht nur von sach- und erkenntnisbezogenen Argumenten leiten. Für einige Beteiligte mag es einfach auch nur “schick” sein, gegen das “Althergebrachte” zu sein und die kritische Sichtweise des bisherigen Vorgehens schützt auch nicht vor unreflektierter Proklamation neuer Denk- und Handlungsmuster.
In dem vorliegenden Beitrag wird der Versuch unternommen, die Bedeutung des Abstinenzparadigmas in der bisherigen Suchtbehandlung von Alkohol- und Medikamentenabhängigen zu würdigen und gleichzeitig seine Grenzen und Einschränkungen aufzuzeigen. Aus diesem Spannungsfeld ergeben sich fruchtbare Ansatzpunkte, wie Abstinenz als Therapieziel in die Abhängigkeitsbehandlung gewinnbringend integriert werden kann.
1. Suchtkliniken leisten mit ihren derzeitigen Behandlungskonzepten gute Arbeit.
Ihnen alle wurde schon mal die scheinbar naive Frage gestellt: Kann ein Alkoholabhängiger nach einer Therapie überhaupt keinen Alkohol mehr trinken, nicht mal mehr eine Schnapspraline essen?
Wahrscheinlich beantworten die meisten von Ihnen diese Frage so ähnlich wie ich auch: Sie benennen das Abstinenzgebot, versuchen dies plausibel zu machen, bemerken, daß die Praline nicht zu einem Rückfall führen muß und spätestens seit ein paar Jahren versäumen Sie nicht darauf hinzuweisen, daß auch ein Rückfall nicht zwangsläufig in einer Katastrophe endet.
Diese Antwort stimmt in ihrer allgemeinen Form wohl mit der Position, die derzeit in den meisten Fachkliniken vertreten wird, überein. Und wer wie ich, in einer Klinik beruflich sozialisiert wurde und dort in die gängigen Paradigmata der Suchtbehandlung eingeführt wurde, weiß, daß Suchtkliniken ihre Behandlungsvorgaben sehr ernst nehmen und sich beflissentlich darum bemühen, das, was sie für richtig halten, in der Arbeit mit den Patienten auch klar und konsequent umzusetzen.
Suchtkliniken nehmen ihre Konzepte mitunter so ernst, daß sie in ihren Vorgehensweisen - von außen betrachtet - oft starr und dogmatisch oder zumindest schwerfällig wirken. So manch einer fühlt sich daher eingeladen, an den Kliniken "und deren Konzepten herumzumäkeln". Einige der Kritikpunkte sind sicherlich auch berechtigt. Dennoch habe ich in der täglichen Arbeit kein schlechtes Gewissen und versuche mit Engagement und Überzeugung die geltenden Therapiekonzepte umzusetzen. Therapiekonzepte sind nicht unantastbar, in ihrer jetzigen Form sind sie allerdings auch praxiserprobt und repräsentieren einen umfassenden Wissens- und Erfahrungsschatz.
Im Kontakt mit dem Patienten vertreten die meisten Kliniken ein Sucht- und Behandlungskonzept, das verständlich ist, plausibel erscheint und vor allem auch in seiner Behandlungskonsequenz für den Patienten umsetzbar ist.
Ist der Therapeut von diesem Konzept überzeugt und gelingt es ihm auch, den Patienten für sein Konzept zu gewinnen, sind wichtige Voraussetzungen für eine erfolgreiche Behandlung geschaffen. So wissen wir es aus Erfahrung und die Psychotherapieeffektforschung bestätigt uns dies.
Insgesamt betrachtet können sich die Behandlungserfolge der "ungeliebten Kinder der Psychiatrie", das sind die Patienten, und ihrer etwas abschätzig, mitleidig betrachteten Behandler, das sind wir, sehen lassen; zumindest, wenn man dies mit den Heilungschancen chronischer Erkrankungen im somatischen Bereich und anderer psychischer Erkrankungen vergleicht.
2. Behandlungskonzepte bedürfen der Weiterentwicklung
Damit Behandlungskonzepte mit Überzeugung vertreten und in ihren Konsequenzen übernommen werden können, sind sie in der Vergangenheit modifiziert worden und bedürfen auch in Zukunft der Weiterentwicklung. Dies im Bereich der Sucht um so mehr, da wir es hier nicht mit einem einheitlichen Phänomen zu tun haben. Wir können Sucht nicht als unverrückbare Erscheinung dingfest machen. Das, was wir über Sucht denken und wissen unterlag und unterliegt vielfältigen Veränderungen (vgl. Scheerer, 1995). Diese Veränderungen sind nicht nur das Ergebnis wissenschaftlicher Auseinandersetzungen, sondern auch Resultat gesellschaftlicher Strömungen und Bewertungen. So ist es z.B. noch gar nicht so lange her, daß sich die WHO bestimmter Suchtphänomene angenommen hat und versucht hat, diese - zuletzt im ICD-10 - als Krankheit möglichst präzise und konkret zu erfassen. Der hart erkämpfte und in vielerlei Hinsicht nützliche, auf das Individuum bezogene Krankheitsbegriff ist im Laufe der Jahre in die Kritik geraten und wurde durch ein psychosoziales Krankheitsverständnis ergänzt. Die zunehmende Einsicht in differentielle Störungs- und Verlaufsmodelle haben in Forschung und Praxis zu veränderten Vorgehensweisen geführt. Denken Sie nur an die in den letzten Jahren diskutierten geschlechtsbezogenen Differenzierungen und deren Implikationen für den Therapieprozeß.
Selbstverständlich ist der Abhängigkeitsverlauf nicht nur bis zur Behandlung und in der Behandlung differentiell zu betrachten. Auch nach der Behandlung sind über die gesamte Lebensspanne hinweg unterschiedliche Verlaufs- und Erscheinungsformen zu erwarten und auch beobachtbar. Diese Multidirektionalität kennen wir von anderen Erkrankungen und wir begegnen ihr auch in der nicht auf den klinischen Bereich bezogenen Entwicklungspsychologie des Erwachsenenalters. Die Entwicklungsverläufe von Abhängigen werden trotz dieses generellen Wissens aber häufig lediglich dichotom beschrieben: lebt er abstinent oder trinkt er wieder.
Die über katamnestische Studien gewonnenen Ergebnisse (vgl. Feuerlein, 1990; Scheller, Klein & Zimm, 1995) weisen aus, daß über einen längeren Zeitraum von 5 und mehr Jahren gesehen etwa 70% der stationär behandelten Patienten wieder Alkohol trinken. Die Rückfallforschung, die vielleicht treffender Abhängigkeitsverlaufsforschung benannt werden sollte, versucht der Dichotomisierung in der Verlaufsbeschreibung entgegenzuwirken (vgl. Körkel & Lauer, 1995). So wird u.a. das erneute Trinken präziser beschrieben und es werden Unterschiede in Trinkstilen und -mustern ausgemacht. In der Tat ist es ja auch für die Lebensbezüge der Person und auch ihrer Umgebung sehr bedeutsam, ob jemand einen Tag, eine Woche, einen Monat oder ununterbrochen nach der Therapie wieder Alkohol konsumiert. Gleiches gilt für die Streubreiten der Alkoholmenge: Wird nach der Therapie wieder genauso viel wie vorher getrunken oder wird versucht, entsprechend persönlicher Vorgaben oder sozialer Standards zu trinken.
An Begriffe wie moderates Trinkenverhalten, gebesserter Trinkstatus oder sogar kontrolliertes Trinken können wir allerdings nur schwer gewöhnen; diese Begriffe lösen bei vielen Suchttherapeuten nach wie vor körperliche Reaktionen wie Bauchschmerzen oder das Aufstellen der Nackenhaare aus.
Dementsprechend scheint die Beobachtung, daß es trotz erheblicher Veränderungen über die Zeit und zwischen den ehemaligen Patienten im weiteren Verlauf doch wieder eher zu einer Polarisierung, d.h. Dichotomisierung, kommt (Feuerlein, 1990), beruhigend.
Insgesamt betrachtet dürfte aber trotz aller Vorbehalte gegenüber einzelnen Ergebnissen und Bewertungen, sowie der bekannten methodischen und inhaltlichen Schwächen der erwähnten Studien (Scheller, Klein & Zimm, 1995), Konsens darüber bestehen, daß Langzeitstudien nicht nur sehr aufwendig sind, sondern auch hoch interessante Informationen bereit stellen und somit unsere querschnittsverzerrte Wahrnehmung erweitern können.
Nun, was bedeuten diese Überlegungen für die Diskussion des Abstinenzparadigma?
3. Der Einhaltung der Alkoholabstinenz kommt in der Suchtbehandlung eine bedeutende Rolle zu. Sie ist jedoch nicht das einzigste Therapieziel in Fachkliniken
Es gibt, soweit ich weiß, derzeit keine empirischen Befunde und keine klinischen Erfahrungsberichte, die ernsthaft in Frage stellen, daß Abstinenz für die überwiegende Zahl der wg. Abhängigkeit behandelten Patienten das Mittel der Wahl ist. Die Vorteile der Abstinenz für Abhängige sind offenkundig und gut nachvollziehbar:
- Abstinenz ist eine sehr gut operationalisierbare Zielvorgabe mit klarem Erfolgskriterium, das gerade für die Betroffenen einfach zu überprüfen ist.
- Der Betroffene kann durch sein Verhalten (abstient leben) großen Einfluß auf den Krankheitsverlauf nehmen und innerhalb einer komplexen Problematik eine zentrale Problemstellung, nämlich das Trinken, in den Griff bekommen.
- Wir erleben in der klinischen Praxis, daß Menschen durch ihre abstinente Lebensführung enorm profitieren; sie stärken ihr Selbstwertgefühl, erfahren sich als hoch selbstwirksam und nutzen die über die Abstinenz erzielten Erfolge zur Lösung der Folge- und Begleitproblematik. Jeder, der mit Abhängigen arbeitet, ist tief beeindruckt von Veränderungen, die Patienten, die abstinent leben, initiieren und erreichen. Patienten leiten in und nach der Therapie radikale Lebensstiländerungen ein, nutzen die Gestaltungsspielräume, finden zu neuen Lebenszielen und zu einer neuen Identität.
Abstinenz nimmt daher in der Suchtbehandlung zurecht eine bedeutende Stellung ein.
Aus weniger positiven Erfahrungen in der Behandlung Suchtkranker wissen wir allerdings, daß Abstinenz keine Garantie für positive Entwicklungsverläufe ist und viele Patienten die beschriebenen positiven Effekte der Abstinenz nicht nutzen können.
Tatsächlich ist Abstinenz auch trotz der zentralen Stellung der Abstinenzquoten nicht das einzige, nachdem wir den Erfolg einer Behandlung bemessen und vor allem auch nicht das einzige, was Fachkliniken als Therapieziele formulieren und anstreben. Ein Blick auf die Therapieziele von 43 Fachkliniken in der Broschüre des Fachverbands Sucht macht dies überaus deutlich: So werden häufig die berufliche, körperliche und soziale Rehabilitation als erste Therapieziele genannt. Wenn auch nicht ausdrücklich eine Rangreihe ausgewiesen ist, so findet sich Abstinenz erstaunlicher Weise lediglich neben, hinter oder in Zusammenhang mit Zielsetzungen wie Stärkung der sozialen Kompetenz, der Konfliktfähigkeit, der Selbstkontrolle, der Reifung der Persönlichkeit oder der Entdeckung persönlicher Ressourcen. Bei zwei Kliniken wurde sogar auf die Nennung der Abstinenz als Therapieziel vollständig verzichtet. Andere Kliniken benennen die Abstinenzmotivation oder die Stärkung der Abstinenzfähigkeit als Zielsetzung ihrer Behandlung.
Ist Abstinenz trotz anderslauternder Beteuerungen (vgl. Missel, 1993) damit als Therapieziel nun doch nicht so bedeutsam, wie ich oben ausgeführt habe und das Vortragsthema überhaupt nicht so brisant, wie ich eingangs befürchtete?
4. Abstinenz ist eher der Weg als das Ziel
In der Tat glaube ich, daß wir die Diskussion zur "Abstinenz als Ziel aller Hilfen" dadurch entschärfen können, indem wir Therpieziele und Wege zur Zielerreichung unterscheiden:
Abstinenz kann meiner Meinung nach auch nicht als eigentliches Therapieziel gelten. Abstinenz ist vielmehr daher so bedeutsam, da persönlich und gesellschaftlich relevante Therapieziele am ehesten über sie erreicht werden können. Abstinenz ist somit das Mittel zum Zweck.
Da Abstinenz zur Erreichung der unterschiedlichen Zielsetzungen eine große Bedeutung erlangt hat und umgekehrt das Nichteinhalten der Abstinenz mit verheerenden Folgen für den Betroffenen und seine Umgebung verbunden sein kann, haben wir uns in der Behandlung von Suchtkranken sehr auf die Abstinenz fixiert. Vielleicht ihre Bedeutung als Methode der Wahl sogar verabsolutiert (vgl. Lieb, 1993). Lassen Sie mich daher ein paar kritische Anmerkungen zum Abstinenzparadigma machen.
5. In einer der Differenzierung verpflichteten Psychotherapie kann Abstinenz nicht für jeden Patienten zu jedem Zeitpunkt der einzig mögliche Weg sein
Es führen bekanntlich viele Wege nach Rom. Sicherlich gibt es direkte und weniger direkte Verbindungen. Der direkte Weg muß aber nicht der sicherste und auch gar nicht der schnellste sein und der indirekte ist vielleicht nicht der bequemste, aber der landschaftlich reizvollste und so weiter und so fort. Welcher Weg für den Reisenden im Einzelfall der beste ist, hängt von vielen Faktoren ab: dem Ausgangspunkt, den zur Verfügung stehenden Verkehrsmitteln, der Jahreszeit oder besonderen Ereignissen wie Streiks, Blockaden u.ä..
Ist Abstinenz für alle unsere Patienten in jedem Entwicklungstadium, zu jedem Zeitpunkt, die einzigste und beste Alternative? Wenn wir die Metahpher des Weges nach Rom zu Rate ziehen, sicherlich nicht. Da Metaphern immer nur eine begrenzte Aussagekraft haben und wir uns in der Suchtforschung natürlich nicht mit Metaphern zufrieden geben, will ich einige inhaltliche Argumente für die stärkere Berücksichtigung alternativer Wegstrecken nennen.
Da sind nun mal diese 5,8,12 oder mehr Prozent von Abhängigen, die ihr Trinkverhalten doch über längere Zeiträume im Griff zu haben scheinen. Wir können die Existenz dieser Gruppe - unabhängig von ihrer letztendlichen Größe - nicht einfach leugnen. Wir können auch nicht sagen, daß es sich bei diesen Menschen gar nicht um Alkoholabhängige handelt. Die bei diesem Argument und in vielen anderen Diskussionen unterstellte Permanenz und Irreversibilität des Kontrollverlustes gegenüber dem Suchtmittel ist nämlich kein diagnostisches Kriterium der Abhängigkeit. Sie ist vielmehr eine Annahme über deren langfristigen Verlauf.
Ist die oben beschriebene Gruppe nun die Ausnahme der Regel und damit vielleicht sogar die Bestätigung der Regel? Oder weckt diese Gruppe in besonderer Weise unsere Neugierde und auch unseren Ehrgeiz, um mehr über alternative Wege und Wegstrecken zu erfahren? Durchaus mit dem Ziel, später auch andere Wege zu gehen.
Die letzt genannte Einstellung halte ich nicht nur für legitim, sondern auch für notwendig. Umorientierung und das Erschließen neuer Möglichkeiten haben in der Vergangenheit in der Suchttherapie dazu geführt, daß so manches Spannungsfeld und so mancher scheinbare Widerspruch gewinnbringend in die Behandlungskonzepte integriert werden konnte. Denken Sie an die Diskussion um die Motivation und den erlebten Widerstand bei Suchtkranken oder die Diskussion zur Einbeziehung des sozialen Umfeldes.
In der therapeutischen Praxis, in der Auseinandersetzung mit dem Schicksal der einzelnen Person, sind wir viel eher als in der theoretischen Diskussion bereit, Modellvorstellungen hintenanzustellen und individuelle Lösungen zu suchen. So wissen wir uns zwar mit der Empfehlung lebenslanger Abstinenz auf der sicheren Seite, sind aber auch im Einzelfall mit Zwischen- und Teillösungen hoch zufrieden. Die Beiträge der Rückfallforschung haben hier einem realistischeren Vorgehen und individuenzentrierten Zielsetzungen den Rücken gestärkt.
6. Als rigide Therapievorgabe kann Abstinenz notwendige Entwicklungs- und Entscheidungsprozesse in der Psychotherapie blockieren
Ich kann mir vorstellen, daß die kritische Reflexion des Abstinenzparadigma auch an anderer Stelle unsere therapeutische Handlungskompetenz stützt und erweitert.
So kann unser Wissen und unsere Erfahrung um den Nutzen der Abstinenz in - ohne Zweifel gut gemeinter Absicht - zur rigiden Therapievorgabe und zum nicht immer hilfreichen Abstinenzgebot für Patienten werden. In begrenztem Maße sind Vorgaben gerade in der Therapie mit Abhängigen - etwa zur Initiierung einer Therapie und auch während deren Verlauf - notwendig und funktional. Gleichzeitig wissen wir aber, daß sich mittel- und langfristige Erfolge in der Psychotherapie nur dann einstellen, wenn sich die Person die Motivation zur Veränderung zu eigen macht und aktiv an der Umsetzung von Veränderungen mitarbeitet.
Ich fürchte, daß wir durch die Vorgabe der Abstinenz als einzig möglichen Weg oder sogar Lebensweise für die Patienten notwendige Entwicklungs- und Entscheidungsprozesse eher blockieren als fördern. So ermuntern die Patienten einerseits zur Autonomie, zur Selbstkontrolle und Eigenverantwortung, bedrängen sie geradezu, in sich hineinzuhören, ihre Bedürfnisse und Gefühle zum Ausdruck zu bringen. In einem für Sie zentralen Lebensbereich, nämlich dem Umgang mit Alkohol, sagen wir Ihnen aber andererseits gleichzeitig, was für sie gut und richtig ist.
In der Suchtbehandlung brauchen wir zum Heilungsprozess aber mehr als bei anderen, z.B. rein somatischen Erkrankungen, die Compliance der Betroffenen. Was wir bei vielen Suchtpatienten in der therapeutischen Praxis erleben und durch die strikte Vorgabe der Abstinenz unter Umständen fördern, sind Überanpassung und eine nur oberflächlich fundierte, unkritisch übernommene Abstinenzabsicht. Würden wir nicht bei einigen dieser Patienten die Compliance im therapeutischen Prozeß erhöhen, wenn wir in den Dialog und die Auseinandersetzung über den richtigen Weg eintreten statt das Ergebnis der Auseinandersetzung vorzugeben.
Für diesen Dialog scheinen mir Psychotherapeuten aufgrund ihres fachlichen Wissens und ihrer speziellen Fähigkeiten zur Initiierung und Begleitung von Veränderungsprozessen in besonderem Maße geeignet.
In der Auseinandersetzung um den richtigen Weg müssen wir unsere Position gegenüber dem generellen Nutzen einer abstinenten Lebensführung keineswegs aufgeben, tragen aber in der Therapie eher dem Umstand Rechnung, daß das zukünftige Verhalten des Patienten weniger durch unser Wissen und unsere Vorgaben, als durch dessen Einstellungen und Entscheidungsprozesse bestimmt wird.
7. In der psychotherapeutischen Praxis bewegen sich Suchttherapeuten in dem Spannungsfeld zwischen der Hinführung auf ein vorgegebenes Verhalten und der fachlich geleiteten Entscheidungshilfe
Natürlich gehen wir auch schon in unserem bisherigen therapeutischen Vorgehen auf diese Entscheidungsprozesse ein. Was wir dabei erleben läßt sich meiner Meinung nach als Spannungsfeld zwischen der Hinführung auf ein vorgegebenes Verhalten und der fachlich geleiteten Entscheidungshilfe beschreiben.
Beide Vorgehensweisen haben ihre Berechtigung und sollten entsprechend ihrer Funktionalität auch eingesetzt werden.
Ich kann mir vorstellen, daß die Entscheidungsfindung an Bedeutung gewinnen wird; u.a., da die Suchterkrankung zunehmend früher erkannt wird und Patienten noch über mehr Entscheidungskompetenz und -spielräume verfügen werden. Vielleicht senken wir mit der stärkeren Betonung der Entscheidungshilfe auch die Schwelle zum Eintritt in die Behandlung überhaupt.
8. Bitte keine Entweder-Oder-Lösungen und keine Spaltung zwischen ambulanter und stationärer Reha
Falsch hielte ich es an dieser Stelle, wenig ergiebige Entweder-Oder-Lösungen zu diskutieren und über die unterschiedlichen Möglichkeiten des therapeutischen Vorgehens als Glaubensfrage zu streiten. Hierzu scheint mir die Suchttherapie in ihren fachlichen Differenzierungen zu weit fortgeschritten.
Wichtig halte ich darüber hinaus, daß die unterschiedliche Akzentuierung im therapeutischen Prozeß nicht an ein Setting gebunden ist, wie z.B. ambulant oder stationär, sondern personen- und störungsbezogen erfolgt.
Somit wird es meiner Meinung nach möglich sein, ein weiteres Spannungsfeld der Suchttherapie konstruktiv aufzugreifen und den Patienten eine erfogversprechendere Behandlung anzubieten.
Literatur
Fachverband Sucht (Hrsg.).: Hilfe für Suchtkranke. Verzeichnis der Einrichtungen.
Bonn 1995, 1-43.
Feuerlein, W.: Langzeitverläufe des Alkoholismus. In: D.R. Schwoon, M. Krausz
(Hrsg.): Suchtkranke. Die ungeliebten Kinder der Psychiatrie. Stuttgart, 1990, 69-80.
Körkel, J. & Lauer, G.: Rückfällige Alkoholabhängiger: Ein Überblick über neuere
Forschungsergebnisse und -trends. In: J. Körkel, G. Lauer, R. Scheller (Hrsg.): Sucht und Rückfall. Stuttgart 1995, 158-185.
Lieb, H.: Abstinenz Freiheit oder Bürde. In: Fachverband Sucht e.V. (Hrsg.): Thera-
pieziele im Wandel. Geesthacht 1994, 103-119.
Missel, P.: Abstinenz - unabdingbare Zielsetzung? - Zukunftsperspektiven: Thera-
peutische Mythen oder Psychotherapie bei Abhängigkeitserkrankungen? In: Fachverband Sucht e.V. (Hrsg.): Therapieziele im Wandel. Geesthacht 1994, 131-146.
Scheerer, S.: Sucht. rororo spezial. Hamburg 1995.
Scheller, R., Klein, M. & Zimm, S.: Verläufe von Suchtkarrieren: Langzeitkatam-
nesen aus kritischer Perspektive. In: J. Körkel, G. Lauer, R. Scheller (Hrsg.): Sucht und Rückfall. Stuttgart 1995, 2-13.