Für alle die am Thema interessiert sind, gibt es viel zu lesen.
Hier ein paar Beispiele als Einstieg:
1. Annahme: Alkoholabhängige unterscheiden sich qualitativ (und nicht nur quantitativ) von Nicht-Abhängen: Man ist Alkoholiker oder nicht - genau so wie man schwanger ist oder nicht. Was ist von dieser Annahme zu halten? Annahme 1 ist nicht nur empirisch nicht belegt, sondern durch vielfältige Befunde widerlegt. Ein Beispiel: Mit der Menge des konsumierten Alkohols und der Anzahl negativer Konsumfolgen nehmen die Krankheitssymptome (z.B. erfasst nach DSM-IV) linear (!) zu - es gibt also keinen ersichtlichen qualitativen Sprung beim Erreichen der Symptomanzahl (nämlich drei), ab der man von "Alkoholabhängigkeit" spricht (Miller 1996; vgl. Abbildung 1 sowie Kruse, Körkel & Schmalz 2001, S. 46).
2. Annahme: Alkoholabhängige "haben den Kontrollverlust", Nicht-Abhängige haben ihn nicht. Auch diese Entweder-oder-Annahme ist weit verbreitet. Was aber ist unter "Kontrollverlust" zu verstehen? Was völlig einfach klingt und klar zu sein scheint, ist es gar nicht: Der Begriff "Kontrollverlust" wird nämlich äußerst vage und meist vorwissenschaftlich-umgangssprachlich benutzt. Bei näherem Besehen gibt es mindestens zwei Sichtweisen von Kontrollverlust (vgl. Heather & Robertson, 1983):
3. Annahme: Die wahren Ursachen des Alkoholkonsums sind bio-logische Abweichungen vom Normalzustand (genetische Ausstattung, Metabolismus) Psychologische, soziale u.a. Faktoren spielen nur für die Ausformung des Alkoholismus eine Rolle. Vielfältige Studien sprechen auch gegen die Richtigkeit dieser dritten Grundannahme des dispositionellen Alkoholismusdenkens:
4. Annahme: Alkoholismus ist irreversibel: "Wir wissen, dass kein Alkoholiker jemals wieder kontrolliert trinken kann" (Anonyme Alkoholiker 1992, S. 35). Die Krankheit kann nur durch Abstinenz zum Stillstand gebracht, aber nicht geheilt werden. Jeglicher Alkoholkonsum reaktiviert die manifeste Erkrankung.Diese Annahme der Irreversibilität von Alkoholismus wird durch die Forschung vielfältig widerlegt:
1. Was soll "Suchtgedächtnis" bedeuten? (Definition)Resümee: Was "Suchtgedächtnis" definitorisch überhaupt bedeuten soll, ist unbestimmt. Mit anderen Worten: Durch die Variabilität und Breite der vorliegenden Umschreibungen von "Suchtgedächtnis" bleibt von Anfang an unklar, von was überhaupt die Rede sein soll.
2. Woran kann man das "Suchtgedächtnis" genau erkennen bzw. wie kann man es "dingfest" machen ? (Operationalisierung)Nur: Dass man sich an Vergangenes erinnern kann, ist trivial und zeugt lediglich von mangelndem Gedächtnisschwund - belegt aber nicht, dass es ein einheitliches "Suchtgedächtnis" gebe.
3. Wie lässt sich das "Suchtgedächtnis" messen?Eine empirische Erfassung des sog. "Suchtgedächtnisses" mittels eines (nachweislich konstruktvaliden) Messinstrumentes ist Voraussetzung für empirisch gehaltvolle Aussagen zur Bedeutung eines postulierten "Suchtgedächtnisses".
Über ein entsprechendes Messinstrument ist aber nichts zu lesen. Mit anderen Worten: Es wird beim Reden über "Suchtgedächtnis" mit gewichtigen Worten ins Ungefähre geblickt - über eine unterstellte Sache, die niemand empirisch erfasst hat.
4. Hat das "Suchtgedächtnis" Vorhersagewert? (prognostische Validität)In den vorliegenden Veröffentlichungen wird in vager Form ein Vorhersagewert des "Suchtgedächtnisses" beansprucht. So wird etwa behauptet, das "Suchtgedächtnis" sei "Schrittmacher eines späteren Rückfalls" (Böning 1994, S. 244). Auch in diesem Aspekt ist ein Mangel an wissenschaftlicher Ausgereiftheit zu konstatieren:
5. Wie sollte das sog. "Suchtgedächtnis" veränderbar sein? Im positiven Falle: Warum sollte aufgrund eines "Suchtgedächtnisses" nur Abstinenz, aber kein symptomfreier Konsum möglich sein?
Wenn "Suchtgedächtnis" als molekular-neuronal-psychologisch verankerter "Bestandteil der Persönlichkeit" (Böning 2000, S. 283) verstanden wird, so taucht die skeptische Frage auf, wie denn ein so fest verwurzeltes Persönlichkeitsmerkmal überhaupt veränderbar sein soll?
"Suchtgedächtnis": ResümeeDie Veröffentlichungen zum "Suchtgedächtnis" zeichnen sich durch einen hohen Erklärungsanspruch aus und erweisen sich letztlich doch als abenteuerliche Metaphysik.
Diese und andere Erkenntnisse kann man hier vertiefen. Sie stammen immerhin vom Gründungsherausgeber der Fachzeitschrift Suchttherapie,
Prof. Joachim Körkel. In Frankfurt 2011 haben wir live miterlebt, wie dieser Wissenschaftler in 20 Minuten ein komplettes Auditorium mit Fakten und Daten mühelos an die Wand gespielt hat. Es lohnt sich schon, im Detail nachzulesen, es gibt viel Erkenntnis zu gewinnen.
LG Federico