Donnerstag 19. Juli 2012, 15:32
Hallo Aspino,
zu A)
Alkoholabhängigkeit ist keine Willensschwäche sondern u.a. eine Stoffwechselerkrankung des Gehirns. Genausowenig wie ein Diabetiker seiner Bauchspeicheldrüse kraft seines Willens befehlen kann, mehr Insulin zu produzieren, kann ein Alkoholiker seinem Gehirn den Befehl geben, kein craving mehr zu empfinden.
Ich z.B. habe lange versucht über den Willen meine Sucht zu überwinden und habe es nicht geschafft. Das habe ich nie verstanden, weil es mir in sonstigen Lebensbereichen recht gut gelingt, meinen Willen, oder besser meine Ziele durchzusetzen. Ich habe mich daher mehr und mehr als Versagerin gefühlt und habe um dieses miese Gefühl zu überdecken, noch mehr getrunken. Erst seitdem ich gelernt habe, durch das Buch von Dr. Ameisen und das Forum hier, dass meine Sucht biochemische Ursachen hat und auf diesem Weg mit Baclofen auch behandelt werden kann, gibt es für mich einen Ausweg aus der Suchtspirale. Und siehe da, seitdem Baclofen angefangen hat, das chemische Ungleichgewicht in meinem Gehirn zu reparieren, funktioniert auch mein Wille wieder, und ich kann sagen, danke, ich trinke nichts, ich will und ich werde mit Hilfe von Baclofen aus der Sucht aussteigen.
Besser kann ich es nicht erklären, weil ich leider in Biologie und Chemie immer schon eine Niete war (und in der Schule noch nicht mal den Willen hatte, in diesen Fächern was zu lernen, ich hatte meine guten Noten immer in den Laberfächern

)
Ich fand die Informationen auf dieser Seite sehr hilfreich
http://www.alkoholismus-hilfe.de/alkoho ... tml#psycheVielleicht findest du dort auch etwas zu deinen Fragen B) und C)
Ich glaube, dass bei den familiären Gründen häufig Themen von Kindesmißbrauch, Mißhandlungen oder Kindesvernachlässigung eine Rolle spielen. Oft so subtil, dass man nicht gleich drauf kommt. Bei mir z.B. war es so, dass meine Eltern aufgrund eigener Traumata (Krieg, Flucht) uns Kindern nicht die liebevolle Stabilität geben konnten, die Kinder brauchen. Ich musste schon als Kind oft für meine Eltern sorgen, weil sie nicht mehr konnten. Gleichzeitig wurde ich für alles kritisiert und hatte kein Recht auf eigene Wünsche. Das hat mir frühzeitig die Kraft für ein eigenes Leben geraubt. Obwohl ich viele Talente habe, geht bis heute mein Selbstwertgefühl gegen Null. Damit habe ich auch konsequent die Menschen, die mich eigentlich lieben, vergrault. Bei mir hat das Trinken etwas mit Selbstzerstörung zu tun, weil ich tief drin, nicht glaube, dass ich das Recht habe, zu leben.
Ich habe jetzt eine Therapie begonnen und werde nach und nach diesen Dingen auf den Grund gehen. Das kann ich jedoch erst, seitdem ich durch Baclofen vom Suchtdruck befreit bin. Allerdings denke ich auch, der Blick nach hinten bringt nicht so wahnsinnig viel, was nützt es mir, wenn ich weiss, warum alles so gekommen ist. Schuld ist eh niemand, meine Eltern taten das, was sie konnten. Ich möchte lieber nach vorne schauen, möchte nach und nach meine Talente und meine liebenswerten Seiten wieder ausgraben und mich in Selbstliebe und Selbstannahme üben.
zu D) und E)
Angehörige und Freunde schweigen m.E. weil sie das,was sie eigentlich sagen wollen, nämlich "Du bist ein willenloses und charakterloses Stück Dreck" nicht sagen dürfen, weil sich das nicht gehört. Also schweigen sie und sind irritiert und beschämt, auch weil sie instinktiv wissen, dass sie schlicht und einfach Glück hatten, dass sie nicht betroffen sind. Was man nicht kennt und nicht versteht, das macht Angst, das grenzt man aus und wertet es ab. Schau doch mal, mit welchem Hass z.B. über Flüchtlinge und Migranten gesprochen wird, dabei hat man einfach nur unverschämtes Glück gehabt, hier und nicht dort geboren worden zu sein.
Zum Thema Outing: ich erzähle es nur Menschen, von denen ich absolut weiss, dass sie mit der vielschichtigen Problematik umgehen können und die zu wirklicher, echter, tiefer Empathie fähig sind. Das sind nicht viele. Am ehesten finde ich diese Menschen zur Zeit in diesem Forum, deshalb lese und schreibe ich auch gerne hier. Am wenigsten - für mich total erstaunlich - habe ich diese Menschen im Bereich der Suchtberatung gefunden. Auf meiner Suche nach Therapie und eventuell SHG bin ich auch da gelandet und muss sagen, ich bin noch nie so abschätzig behandelt worden wie da. Die müssen leider ohne mich auskommen.
Oh je, das ist jetzt ein ganzer Roman geworden. Danke an jeden, der sich da druchgekämpft hat. Selbsthilfe-Forum heisst jetzt gerade für mich, ich helfe mir selber, indem ich mir alles von der Seele schreibe. Danke an @aspino, dass er mich durch seine Fragen zum Nachdenken angeregt hat.
LG an alle, Betty