Schade, dass es undatiert ist. Passend zum Thema:
Szasz, Thomas S.: 1974/Das Ritual der Drogen – Das 'Drogenproblem' in neuer
Sicht: Sündenbock unserer Gesellschaft/
Vorwort
Es gibt vermutlich ein Thema – nur ein einziges –, worüber sich die
Politiker aller moderner Industriestaaten einig sind; worüber sich
Katholiken, Protestanten, Juden, Mohammedaner und Atheisten einig sind;
worüber sich Demokraten, Republikaner, Sozialisten, Kommunisten,
Liberale und Konservative einig sind; worüber sich medizinische und
wissenschaftliche Kapazitäten in der ganzen Welt einig sind; und worüber
sich – wie aus Meinungsumfragen und Wahlverhalten hervorgeht die große
Mehrheit der Bevölkerung aller Kulturnationen einig ist:
die „wissenschaftliche Tatsache“, daß bestimmte Substanzen, die Menschen
schlucken oder sich einzuspritzen belieben, sowohl für sie selbst als
auch für andere „gefährlich“ seien und daß der Konsum dieser Substanzen
als „Drogenmißbrauch“ oder „Drogenabhängigkeit“ anzusehen sei – eine
Krankheit, die von der Ärzteschaft und dem Staat mit vereinten Kräften
eingedämmt und ausgerottet werden müsse.
Unter den einzelnen Völkern und
Staaten, ja selbst von einem Jahrzehnt zum anderen, besteht jedoch nur
geringe Übereinstimmung darüber, welche Substanzen als akzeptabel und
ihr Gebrauch daher als gesellschaftsfähig zu betrachten seien und welche
anderen Stoffe als inakzeptabel und ihre Verwendung als
„Drogenmißbrauch“ und „Drogenabhängigkeit“ gelten müßten.
Ich verfolge mit diesem Buch ein simples und zugleich weit
gestecktes Ziel. Zunächst möchte ich die tatsächlichen Vorgänge
darstellen, die unser sogenanntes Drogenproblem kennzeichnen: auf der
einen Seite aggressive Werbung für bestimmte Genußmittel, auf der
anderen überängstliche Verbote; da gewohnheitsmäßiger Konsum und dort
furchtsames Meiden verschiedener Drogen; sowie, allgemeiner gesehen, die
Regulierung verschiedener Formen rituellen und sonstwie abweichenden
Verhaltens – durch die Mittel der Sprache, des Gesetzes, der Sitte, der
Religion und jede andere denkbare Methode sozialer und symbolischer
Kontrolle.
Sodann möchte ich den begrifflichen Rahmen und die logischen
Kategorien bestimmen, denen diese Phänomene zuzuordnen sind. Ich werde
zeigen, daß sie den Bereichen der Religion und der Politik angehören;
daß „gefährliche Drogen“ und deren Konsumenten, Produzenten und Händler
die Sündenböcke unserer modernen, profanen, therapeutisch orientierten
Gesellschaft sind; und daß die rituelle Verfolgung dieser
pharmakologischen Faktoren und menschlichen Akteure vor dem historischen
Hintergrund der rituellen Verfolgung anderer Sündenböcke wie Hexen,
Juden und Wahnsinniger zu sehen ist.
Und schließlich werde ich mich mit den moralischen (und
gesetzgeberischen) Konsequenzen der Auffassung auseinandersetzen, daß
der Gebrauch oder Nichtgebrauch von Drogen keine Frage von Gesundheit
und Krankheit, sondern von Gut und Böse ist; mit anderen Worten, daß
Drogenmißbrauch kein bedauerliches medizinisches Leiden, sondern ein
verfemtes religiöses Ritual ist. Das bedeutet, daß uns in bezug auf das
„Problem“ der Drogen die gleichen Verhaltensweisen zur Wahl stehen wie
in bezug auf das „Problem“ der Religionen: das heißt, wir können
verschiedene Grade von Toleranz und Intoleranz gegenüber denjenigen
praktizieren, deren Glauben – ob theokratisch oder therapeutisch – sich
von dem unseren unterscheidet.
In den letzten fünfzig Jahren hat das amerikanische Volk im Zeichen
von Drogen und Ärzten, Krankheiten und Behandlungen einen der brutalsten
Kriege geführt, den die Welt je gesehen hat. Hätte die amerikanische
Regierung vor hundert Jahren zu bestimmen versucht, welche Substanzen
sich die Bürger einverleiben dürfen und welche nicht, so wäre ein
solches Ansinnen als absurd verlacht und als verfassungswidrig abgelehnt
worden. Hätte die amerikanische Regierung vor fünfzig Jahren zu
diktieren versucht, was die Bauern fremder Länder anbauen dürfen und was
nicht, wäre dieser Versuch als Einmischung kritisiert und als
Kolonialismus zurückgewiesen worden. Dennoch unternimmt die
amerikanische Regierung heute jede Anstrengung, um genau diese
Regelungen zu erzwingen – gegenüber ihren eigenen Staatsbürgern durch
Strafgesetze und Verordnungen zum Schutz der seelischen Gesundheit, und
gegenüber den Bürgern anderer Länder durch wirtschaftliche Drohungen und
Anreize; und diese Regelungen, die das Etikett „Drogenbekämpfung“ oder
„Rauschgiftbekämpfung“ tragen, werden im Inland wie im Ausland von
zahllosen Personen und Institutionen begrüßt und unterstützt.
Es ist uns somit gelungen, rassische, religiöse und militärische
Unterdrückung und Fremdherrschaft, die uns jetzt unehrenhaft erscheinen,
durch medizinische und therapeutisch motivierte Unterdrückung und
Fremdherrschaft zu ersetzen, die uns jetzt ehrenvoll dünken. Da diese
neuen Zwänge auf /Wissenschaft/ zu beruhen scheinen und nur der
/Gesundheit/ zu dienen vorgeben und da die Opfer dieser Unterdrückung
und Fremdherrschaft die Idole des medizinischen und therapeutischen
Szientismus oft ebenso inbrünstig anbeten wie ihre Unterdrücker, können
die Opfer das Fatale ihrer Situation nicht einmal artikulieren und sich
daher auch nicht zur Wehr setzen. Vielleicht ist diese Herrschaft des
Menschen über den Menschen – dieser symbolische Kannibalismus, der einem
Leben Sinn verleiht, indem er ein anderes seines Sinnes beraubt – ein
integraler Bestandteil der Conditio humana und als solcher
unvermeidlich. Aber deshalb besteht noch lange keine Notwendigkeit für
den einzelnen, sich einzureden, die rituelle Verfolgung von Sündenböcken
– durch Kreuzzüge, Inquisitionen, Endlösungen oder Kampagnen gegen
Drogenmißbrauch – sei geeignet, Götter zu besänftigen und Krankheiten zu
verhüten.
Syracuse, New York
Thomas Szasz
Aus:
Szasz, Thomas S.: /Das Ritual der Drogen – Das 'Drogenproblem' in neuer
Sicht: Sündenbock unserer Gesellschaft/. Fischer Taschenbuch Verlag:
Frankfurt am Main 1980; Engl.: /Ceremonial Chemistry/. Anchor
Press/Doubleday, Garden City/New York 1974
Nachdruck und Online-Ausgabe:
Szasz, Thomas S.: /Ceremonial Chemistry: The Ritual Persecution of
Drugs, Addicts, and Pushers/. Syracuse University Press: Suracuse 2003:
http://books.google.de/books/about/Cere ... KRwndkEEkC