Freitag 14. Mai 2010, 12:40
Ich gehe in eine SHG "Angst". Meine Therapeutin weiß, dass ich Baclofen nehme, kann jedoch mit der Wirkung nicht viel anfangen. Ihr ist bislang nur aufgefallen, dass ich ernster und ausgeglichener geworden bin. Über Baclofen sprechen wir relativ wenig, weil Alkohol in unseren Gesprächen mittlerweile keine Rolle mehr spielt.
Die Abdosierung erfolgt ja nicht, weil man es so will, sondern weil man nicht mehr anders kann. Ich kann nur aus eigener Erfahrung sprechen. Ich hab damals Ewigkeiten an nur einem Bier genuckelt (fast eine Stunde) und es hat mir nicht einmal geschmeckt. Das war für mich völlig neu, weil ich für ein Bier nie länger als 30 Minuten gebraucht habe. Ich hatte damals kurz zuvor 20 mg Extradosis eingenommen. Damals habe ich nur drei Bier getrunken. Am nächsten Morgen hatte ich dann dieses Gefühl des sich gehen lassen gehabt. Ich hab mir damals einfach gedacht, dass wenn ich schon so lange abstinent gewesen bin, weiter zu trinken nicht schaden würde. Es endete damit, dass ich 5 Tage mehr oder weniger alkoholisiert verbracht habe. Ich hab damals schon am Vormittag getrunken, was ich sonst nie gemacht habe, ich bin dann auch angetrunken zum Sport gegangen, was ich sonst auch nie gemacht habe, weil Sport mich immer vom Trinken abgehalten hat. Zum Glück war ich damals krank geschrieben, sonst wäre ich auch angetrunken zur Arbeit gegangen. Damals habe ich auch runterdosiert. Aber wie soll man das beschreiben? Ich habe es nie bewusst gemacht, sondern ich konnte einfach nicht anders. Solange ich getrunken habe, ging es mir gut. Baclofen hat im angetrunken Zustand nichts gegen das Craving gebracht. Ich hatte am 3. Tag sogar das schlimmste Craving meines Lebens. Gleichzeitig bekam ich aufgrund von Baclofen nicht den gewünschten Rausch. Also wozu weiter einnehmen?
Das Runterkommen, also Baclofen hochdosieren und Alkohol weglassen, hat mir enorm viel Kraft gekostet. Erschwert wurde das Ganze dadurch, dass Ängste und Depressionen zurückkamen. Ein Teufelskreislauf.
Während der gesamten Zeit habe ich, bis auf den 4. Tag, Baclofen in der Menge 20 bis 30 mg eingenommen, aber es hat überhaupt nicht geholfen.
Im Nachhinein kann ich daraus folgendes Schlußfolgern:
1.) Alkohol ist Schuld an meiner Depression. Baclofen hat keine antidepressive Wirkung, sondern die Abstinenz.
2.) Das Suchtgedächtnis ist viel stärker als Baclofen.
3.) Ein Rückfall (auch nur bei einem Bier) bedeutet, auch wenn es klappt, dass man erstmal mit Alkohol pausieren muss, um sein Verhalten genau zu analyiseren. Also immer vorsichtig herantasten.
4.) Die angstlösende Wirkung von Baclofen wirkt bei Alkoholkonsum nicht mehr oder vermindert.
5.) Die angstlösende Wirkung in der Abstinenz verleitet dazu, dass man viel zu schnell wieder nach Alkohol greift. Wie bei normalen trockenen Alkoholiker kommt ein Rückfall nicht, weil es einem schlecht geht, sondern gerade weil es einem gut geht.
6.) Die 3-Monate-Regelung hat sich, meiner Meinung nach, als falsch erwiesen. Man sollte mit MT erst wieder anfangen, wenn man dazu bereit ist (sein Suchtgedächtnis umgeschrieben hat). Es ist nämlich unglaublich leicht, auch für Alkoholiker ohne Baclofen, sich ein bestimmtes Datum zu wählen und bis dahin kaum oder kein Craving zu haben, wenn man also weiß, dass die unterschwellige Gier irgendwann sowieso gestillt wird. Es sollte dann aber auch eine Situation sein, die man schon mehrmals ohne Alkohol erfolgreich durchlebt hat. Das kann unter Umständen Jahre dauern. Aber zum Glück sind es dank Baclofen keine Jahre mehr mit ständigem Craving.
7.) Sucht macht erfinderisch. Niemals alleine darauf vertrauen, dass der engste Freund, der Verwandte oder sonstwer einem, sollte es soweit sein, aus der Patsche helfen kann. Das muss man alleine durchziehen. Dazu gehört eine Menge Vertrauen in sich selbst.
8.) Aus einem erfolgreichen "Vorfall" kann auch Wochen später ein schlimmer Rückfall werden. Das Suchtgedächtnis rattert weiter, auch wenn man keinen Alkohol mehr trinkt. Man muss sich dessen bewusst sein, dass man es aktiviert hat. Unterschwellig zeigt sich durch eine Reihe von Ersatzbefriedigungen (mehr Essen, mehr Rauchen, etc.). Darauf muss man achten.
Mein Ziel ist es auch, das Suchtgedächtnis zu überschreiben. Aber das verzwickter als man denkt. Ich habe oft genug daran gedacht in kontrollierter Umgebung, also wenn mein Mitbewohner anwesend ist und ich auch nur ein Bier in der Wohnung habe, zu trinken. Aber wozu? Ich habe kein Verlangen nach Rausch, ich wüsste, sollte es schief laufen, ich mich tagelang durch die Entgiftung durchquälen dürfte und so eine Testumgebung hätte mit der Realität nicht viel zu tun.
Ameisen trinkt gerne ein Glas Champagner, weil es das einzige Getränk war, das ihm jemals wirklich geschmeckt hat. Es ist wohl ein schönes Gefühl für ihn zu fühlen, dass er es jetzt kann ohne Angst zu spüren. Ich nenne das Heilung. Nicht zu trinken würde bedeuten dass er weiterhin Angst vor Craving und den Folgen hätte.
Genau das meine ich ja mit Drogenkultur. Er weiß, dass es ihm schmeckt (igitt, Champagner

) und dass er es macht, weil er es genießt. Der Alkohol darin spielt eine Nebenrolle. Es gibt verschiedene Formen von Alkoholika, ein 2000 Euro Wein z.B. eignet sich sehr schlecht zum Betrinken. Man will den Geschmack auch danach nicht mit Tütenwein kaputt machen. Bewusst oder unbewusst hat man sich damit eine Kultur um den Rausch geschaffen. Dieses Verhalten wurde uns aber schon seit unserer Teenagerzeit anerzogen.
Ich habe vor einem Jahr das erste Mal das Vergnügen gehabt, sehr teuren Whiskey trinken zu dürfen. Ich habe damals die tiefgründigsten Gespräche geführt, der Alkohol war damals wirklich nur zur Lockerung da und es hat geklappt. Ich war nicht betrunken, sondern hatte nur den Zustand, den jeder Alkoholiker sich klamm heimlich wünscht. Die totale Entspannung. Wir hatten damals nur zwei Gläser getrunken, doch ich hatte auch kein Verlangen mehr zu trinken, weil es sich nicht gehört.
Selbst der schlimmste Alkoholiker würde nicht auf die Idee kommen, sich mit Edelalkoholika den Rausch anzunähern. Da würde er es lieber lassen und gleich zum Späti gehen und sich ein paar Flaschen "Kleiner Feigling" kaufen oder die Edelflasche verkaufen, um mehr Geld für Alkohol zu haben..
In dieser Hinsicht ist das Suchtgedächtnis schon richtig erzogen. Unser Ziel sollte es sein, das Suchtgedächtnis in jeglicher Hinsicht in diese Richtung zu lenken.
Der Rausch selbst ist nämlich weder Freund noch Feind, sondern einfach nur der Begleiter jedes erwachsenen Menschen. Er sollte das Leben weder bestimmen, noch vom Leben fern bleiben (das wäre utopisch). Eine rauschfreie Gesellschaft halte ich ohnehin für nicht erstrebenswert.
Wir haben jahrelang damit verbracht uns zu betrinken und jeder hat irgendwann analyisert, warum es immer wieder zum unfreiwilligen Absturz gekommen ist.
Da kommen dann Gedanken hoch, wie ich war frustriert, hatte Probleme, Ängste, etc., also im Grunde nur selbstbeweihräuchernde Negativerklärungen. Man merkt dann, dass es weder Probleme gelöst hat und Depressionen sogar verschlimmert hat. Aber man würde ja nicht trinken, wenn man auch Positives darin sehen würde. Dies wird vollkommen außen vor gelassen. Ich glaube, dass man dieses Positive nicht verklären sollte, sondern für sich nutzen muss.
Damit verliert man dann auch die verschrobene Sicht eines Alkoholikers. Ich bin durstig, im Kühlschrank ist nur noch Cola und Bier. Cola schmeckt mir nicht, hat es noch nie. Warum sollte man dann auf Bier verzichten? Ich habe ein Date, es erscheint komisch, wenn ich kein Alkohol trinke. Also trinke ich, weil es sich so gehört. Ich bin auf einer Party, alle trinken, also gehört es zur Norm auch zu trinken. Also warum auch nicht trinken?
Alkoholiker sind nämlich auch nur Gesellschaftsmenschen.
Unser Glück ist, dass wir Baclofen haben. Wir haben somit eine Art Ass im Ärmel.
MT braucht aber Zeit. Ich glaube, erst wenn wir ein verantwortungsbewussten Umgang mit der Abstinenz erlernt haben, können wir uns auch einen verantwortungsbewussten Umgang mit dem Trinken aneignen.
Ich habe in den letzten Monaten wertvolle Erfahrungen in dieser Hinsicht sammeln können. Die meisten Menschen trinken, weil es sich gerade so gehört. Es ist Freitag 22 Uhr, da wird sprungartig von Cola auf Alkohol gewechselt, es ist Feiertag und man muss ja trinken. Es ist Feierabend und man trinkt mit den Kollegen, weil das jeder so macht.
Im Gegensatz zu irgendwelchen Suchttherapeuten glaube ich nicht, dass die genannten Fälle Alkoholiker sind. Sie sind normierte Trinker.
Alkoholiker sind jedoch abnorme Trinker. Bis auf den Quartalstrinker kann niemand aufhören, sobald er etwas trinkt.
Wir trinken, weil es unser Körper braucht. Aber dank Baclofen braucht unser Körper den Alkohol nicht mehr. Also warum betrinken wir uns. Warum haben alle hier beschriebenen Rückfälle (auch meiner) zum Totalabsturz geführt? Weil wir psychisch nicht bereit waren.